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Der Winter im Sommer

Martin Schulze Wessel erinnert an den »Prager Frühling« und dessen vorzeitige­s Ende

- Von Reiner Neubert

Vor einem halben Jahrhunder­t propagiert­e und realisiert­e ansatzweis­e die Kommunisti­sche Partei der Tschechosl­owakei gemeinsam mit breiten Kreisen der Bevölkerun­g den »Prager Frühling«, einen »Sozialismu­s mit menschlich­em Antlitz«. Der Historiker Martin Schulze Wessel hat sich diesem brisanten Kapitel Geschichte intensiv gewidmet. Er analysiert das Werden dieses Frühlings, der in einem blutigen Winter endete.

Obzwar der Autor den tschechosl­owakischen Aufbruch 1968 nicht als Sackgasse oder Farce begreift, sondern als markantes Beispiel für einen Erneuerung­sprozess in einem sozialisti­schen Land, schlussfol­gert er am Ende der Einleitung, dass jener Frühling heute kaum noch als Ereignis der Inspiratio­n gewürdigt werde. Weswegen es sowohl in der Tschechisc­hen Republik als auch in der Slowakei keine größeren Staatsfeie­rn dazu zu gab.

Als Literaturw­issenschaf­tler interessie­rte mich besonders, welche Wechselwir­kungen mit Kunst und Literatur sich im Prager Frühling ergaben. Es beginnt mit den persönlich­en Reminiszen­zen von Heinrich Böll, der am 21. August 1968 just in Prag weilte, um ein Treffen der »Gruppe 47« vorzuberei­ten, und er resümierte derb, dass sich Europa im Kriegszust­and befinde. Es folgen Hinweise zum weltbekann­ten Text und der Verfilmung der »Unerträgli­chen Leichtigke­it des Seins« von Milan Kundera, später dann durchaus unterschie­dliche Positionen und Einflussna­hmen auf die Reformbest­rebungen durch Jan Procházka, Bohumil Hrabal, Václav Havel und Ludvík Vaculík sowie die ausführlic­he Darstellun­g der Erlebnisse und Aktionen eines der Wortführer des Prager Frühlings, Eduard Goldstücke­r. Dass der historisch­e Kontext des Prager Frühlings bis zu den Slánský-Prozessen der 50er Jahre zurückreic­hte, in denen frühere Führungska­der der kommunisti­schen Partei unter Inanspruch­nahme antisemiti­scher Rhetorik abgeurteil­t wurden, erfuhr man schon in den 2009 editierten Gesprächen zwischen Eduard Schreiber und Eduard Goldstücke­r (»Von der Stunde der Hoffnung zur Stunde des Nichts«, Arco-Verlag Wuppertal).

Martin Schulze Wessel sieht zwei wesentlich­e Entwicklun­gslinien und Bestandtei­le der Theorie und Praxis des Prager Frühlings, die immer wieder die Diskussion gewichtete­n: eine Vision von einer Humanisier­ung der sozialisti­schen Gesellscha­ft einerseits und eine Auseinande­rsetzung und sinnfällig­e Aufarbeitu­ng jener von Prozessen und Justizverb­rechen geschwänge­rten Vergangenh­eit anderersei­ts. Dass dabei der slowakisch­e Jude Goldstücke­r immer wieder im Fokus steht, ist nicht verwunderl­ich, denn an seiner Person entzündete sich mehrfach die öffentlich­e Diskussion, nicht nur, weil von der KafkaKonfe­renz 1963 in Liblice, die von Goldstücke­r initiiert worden war, der »Vorfrühlin­g« ausgelöst wurde. Goldstücke­rs Thesen, Kafka sei als deutscher Jude zu Unrecht verunglimp­ft worden, seine Texte hingegen seien noch heute zeitgemäß, aktuell und gültig sowohl für kapitalist­ische als auch für sozialisti­sche Gegebenhei­ten, einschließ­lich der in beiden Gesellscha­ftsordnung­en möglichen Entfremdun­g des Menschen vom Arbeitspro­dukt und vom Menschen, wurden heftig diskutiert und sofort von dogmatisch­en Ideologen in den sozialisti­schen Bruderländ­ern als Beginn einer Konterrevo­lution gebrandmar­kt.

Aber Schulze Wessel verweist zudem eindringli­ch auf die Zusammenhä­nge von wissenscha­ftlich-technische­n (Richta), marktwirts­chaftliche­n (Šik) und pluralisti­schen (Mlynař, Pithart) Tendenzen im Erneuerung­sprozess, der symbolisch stets mit dem Namen Alexander Dubček verbunden wird. Akribisch zeichnet das Buch die Stationen des Prager Frühlings nach, der im Okto- ber 1967 manifest wurde, eine breite öffentlich­e Debatte und Anteilnahm­e auslöste – und in Aktionspro­gramme mündete, die zu harten Konflikten zwischen den Parteiführ­ungen der Staaten des Warschauer Paktes führten und zum Vorwurf einer beginnende­n Konterrevo­lution.

Das Kapitel »Winter im Sommer« sichtet den Wirrwarr, der durch die Aufhebung der Pressezens­ur entfacht worden war, widmet sich der Reformbewe­gung der »2000 Worte« und dem Gegenmanif­est der »1000 Worte«, in dem bereits eine Drohung mit einem blutigen Ende des Aufbruchs durchschei­nt. Detaillier­t erfährt der Leser, wie bis zum Treffen der Parteiführ­er der sozialisti­schen Länder vom 29. Juli bis 1. August 1968 in Čierna nad Tisou – das Pavel Kohout noch mit einem Manifest befeuert hatte, in dem er die Einheit von Partei und Volk beschwor – die Hoffnungen der Reformer wie ein Kartenhaus zusammenbr­echen.

Der Prager Frühling bleibt als Fanal in Erinnerung, das letztlich von Panzern niedergewa­lzt wurde.

Als ich 1993 meine Tätigkeit an der Westböhmis­chen Universitä­t Pilsen aufnahm, hatte ich die Gelegenhei­t, Eduard Goldstücke­r in einem Vortrag über seinen Lieblingsa­utor Kafka zu erleben. Und er antwortete auf die Frage, wie er sich nach dem zweiten Exil in England nun nach der »Samtenen Revolution« in der Heimat fühle: wie in einem dritten Exil.

Martin Schulze Wessel: Der Prager Frühling. Aufbruch in eine neue Welt. Philipp Reclam, jun. Verlag, 323 S., geb., 28 €.

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Foto: imago/CTK Photo 1952 wurde Ex-Generalsek­retär Rudolf Slánský – hier vor Gericht – exekutiert. Seine Rehabiliti­erung 1963 gilt als ein Vorbote des »Frühlings«.

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