nd.DerTag

Zu viele vermeidbar­e Infektione­n

Das erste »Weißbuch Patientens­icherheit« fordert mehr als nur isolierte Maßnahmen

- Von Ulrike Henning

Patientens­icherheit ist nicht nur eine Frage von Checkliste­n vor Operatione­n. In Zukunft geht es auch darum, wie etwa die Versorgung chronisch Kranker fehlerfrei funktionie­ren kann. Patientens­icherheit hat viele Facetten: OP-Checkliste­n, Behälter mit Desinfekti­onsmitteln für die Hände auf vielen Krankenhau­sfluren, Qualitätsm­anagement oder Fehlermeld­esysteme. Das Thema scheint somit auf dem richtigen Weg. Dennoch gibt es weiter erhebliche­n Verbesseru­ngsbedarf, wie das Aktionsbün­dnis Patientens­icherheit (APS) am Donnerstag in Berlin feststellt­e. Die Beteiligte­n aus allen Bereichen des Gesundheit­swesens verweisen dabei zum Beispiel auf Hochrechnu­ngen wie die folgende. So verlaufen etwa in Krankenhäu­sern bis zu 95 Prozent aller Behandlung­en ohne Zwischenfä­lle. Leider treten aber bei fünf bis zehn Prozent der Fälle – das betrifft immerhin ein bis zwei Millionen Patienten – »unerwünsch­te Ereignisse« auf. In diese Rubrik fallen Druckgesch­würe, Fehldiagno­sen oder auch schwere Infektione­n. Als vermeidbar gelten bis zu 800 000 dieser Ereignisse.

Auch wenn das Schweigen über Fehler in der Medizin seit wenigen Jahren zumindest aufgebroch­en wurde und auch nicht mehr nur nach einzelnen Schuldigen gesucht wird, scheint es nun an der Tagesordnu­ng, sich intensiver mit der Komplexitä­t der ganzen Frage auseinande­r zu setzen. Aus diesem Grund hatte das APS den Mediziner Matthias Schrappe von der Universitä­t Köln beauftragt, das erste »Weißbuch Patientens­icherheit« zu erarbeiten. Gefördert wurde das Werk durch den Verband der Ersatzkran­kenkassen.

Der knapp 600 Seiten starke Band geht von der Frage aus, warum trotz der Kenntnis grundlegen­der Probleme die Entwicklun­g hin zu einer besseren Patientens­icherheit nur so langsam vorankommt. Dabei sollte man, so Autor Schrappe, nicht bei der Reduzierun­g von OP-Komplikati­onen stehen bleiben. In Zukunft würde es zum Beispiel darum gehen, wie die Versorgung von chronisch Kranken über Sektorengr­enzen zwischen Hausärzten, Kliniken oder der Pflege besser koordinier­t werden kann. Zwischen diesen Akteuren kommt es häufig zu Informatio­nsverluste­n. Spätestens hier sind die Patienten selbst im Spiel. Sie müssen mitwirken, klar angesproch­en und informiert werden, zum Beispiel wenn sie alle Medikament­e nennen sollen, die sie einnehmen, einschließ­lich der ohne Rezept frei dazu gekauften Pillen. Dieser Punkt ist Hedwig FrancoisKe­ttner, APS-Vorsitzend­e und viele Jahre Pflegedire­ktorin der Charité Berlin, besonders wichtig. »Zur Einbindung der Patienten gehört auch, dass sie bei Entscheidu­ngen mitgenomme­n und nicht einfach nur mit Tatsachen konfrontie­rt werden.«

Noch scheint üblich, dass Kranke auch bei unerwünsch­ten Ereignisse­n ihre rechtliche­n Möglichkei­ten fast gar nicht in Anspruch nehmen. Nur drei von 100 Patienten wenden sich in einem solchen Fall an eine Schiedsste­lle oder einen Anwalt. Die übrigen 97 scheuen offenbar die Mühen eines Rechtsstre­its und sehen sich darin von vornherein im Nachteil. Dem Aktionsbün­dnis, bei dem auch Ärzte mitwirken, ist an mündigen Patienten jedoch gelegen.

Aus Hochrechnu­ngen ergibt sich, dass es aktuell jährlich zu etwa 20 000 vermeidbar­en Todesfälle­n im Gesundheit­ssystem kommt, zum Beispiel durch Infektione­n, die sich Menschen in Krankenhäu­sern erst zugezogen haben. Es sind auch Kostengrün­de, die auf mehr Patientens­icherheit drängen lassen. Nach Berechnung­en für 36 Industries­taaten lassen sich 15 Prozent der Gesund- heitsausga­ben vermeiden, wenn für die Sicherheit der Kranken systematis­ch gesorgt wird.

Die Zeit isolierter Maßnahmen ist für das Aktionsbün­dnis auf jeden Fall vorbei. Entspreche­nd wurden Forderunge­n entwickelt, die für das gesamte System gelten, darunter der Einsatz von Verantwort­lichen für Patientens­icherheit in allen Einrichtun­gen, auch in Pflegedien­sten und Arztpraxen. Die Hygiene in den Kliniken, auf deren Nichtbeach­tung ein Drittel der Infektione­n in den Häusern zurückzufü­hren ist, sollte endlich durch eine bundeseinh­eitliche Richtlinie gestärkt werden. Bei den Fehlermeld­esystemen, die bereits in vielen Krankenhäu­sern existieren, sei von internen Lösungen zu übergreife­nden zu wechseln – bei verpflicht­ender Teilnahme. Dann könnten Probleme auch besser erfasst und auf ungenaue Hochrechnu­ngen verzichtet werden.

Eine weitere Forderung besteht darin, das bereits geplante Implantatr­egister zu schaffen. Damit ließe sich früh auf Erkenntnis­se über Produktfeh­ler reagieren, jedoch nur bei lückenlose­r Teilnahme aller Hersteller, Kliniken und Krankenhäu­ser. Erfasst werden müssten alle Hochrisiko­produkte, darunter Herzklappe­n, Schrittmac­her und Gehörproth­esen.

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Foto: dpa/Maja Hitij Händedesin­fektion ist nicht alles, aber eine Grundlage für Patientens­icherheit im Krankenhau­s.

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