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Als der Rubel in den Keller rutschte

Die Russland-Krise vor 20 Jahren galt als Fass ohne Boden. Dann rettete der Rohstoffbo­om den neuen Präsidente­n Wladimir Putin

- Von Hermannus Pfeiffer

Währungskr­isen in der Türkei, in Indien und Südafrika lassen aktuell Schlimmes befürchtet. Doch nicht jeder Kursverfal­l endet gleich in einem wirtschaft­lichen Desaster. »Gewaltige Risiken« für den deutschen Etat befürchtet­e der grüne Haushaltse­xperte Oswald Metzger. »Niemand«, mahnte auch der Steuerfach­mann unter den fünf Wirtschaft­sweisen, Rolf Peffekoven, könne derzeit die Folgen »solide abschätzen«. Ein vertraulic­hes Papier, das der Bundesfina­nzminister Theo Waigel im Haushaltsa­usschuss des Bundestage­s vorlegte, liefert zumindest ein paar Anhaltspun­kte. Und die waren alles andere als beruhigend. Immense Wagnisse, so belegte das Zahlenwerk, war die Bundesregi­erung eingegange­n, um die deutschen Exporte in Richtung Osten anzukurbel­n. Doch Russlands Währung befand sich im freien Fall. Die Rubel-Krise drohte, ein »Fass ohne Boden« zu werden, befürchtet­e das Nachrichte­nmagazin »Der Spiegel«. Das war vor 20 Jahren.

Der 17. August 1998 markierte den schwärzest­en Tag in der Wirtschaft­sgeschicht­e des postsowjet­ischen Russlands. Der Staat wurde mit dem Ausbruch der Krise zahlungsun­fähig. Die Regierung gab den bis dahin stabilen Rubel frei, der daraufhin in wenigen Tagen rund 75 Prozent seines Wertes verlor. Das Finanzsyst­em Russlands brach zusammen. Die reale Wirtschaft­sleistung nahm 1998 um 4,6 Prozent ab, die Investitio­nen schrumpfte­n weiter, und die Inflation erhöhte sich auf fast 90 Prozent. Der Anteil der in Armut lebenden Personen an der Gesamtbevö­lkerung nahm nach Angaben der auf Osteuropa spezialisi­erten Europäisch­en Wiederaufb­aubank EBRD von rund 20 Prozent auf 30 Prozent zu. Auslöser der Russlandkr­ise war der Vertrauens­verlust, den der Rubel im In- und Ausland erlitten hatte. Investoren und Banken waren schon zuvor durch die Finanz-, Währungs- und Wirtschaft­skrise, die Ostasien seit Monaten in Atem hielt, nervös geworden.

Insofern bieten die Asien- und Russlandkr­isen von 1997/98 durchaus Entsprechu­ngen zur heutigen Lage in der Türkei: Die Schwäche der türkischen Lira ist auf andere Schwellenl­änder wie Indien und Südafrika übergespru­ngen, weil die Finanzmärk­te den Währungen und Volkswirts­chaften plötzlich misstrauen.

Die Gründe für die Rubelkrise vor zwei Jahrzehnte­n lagen tief. Präsident Boris Jelzin hatte im Schultersc­hluss mit Internatio­nalem Wäh- rungsfonds und Weltbank auf extreme kapitalist­ische Wirtschaft­sreformen gesetzt. Der Markt sollte den Plan ersetzen: Privatisie­rung öffentlich­en Eigentums, Ende der staatliche­n Preiskontr­ollen, Liberalisi­erung des Außenhande­ls, Förderung eines privaten Finanzsekt­ors und Öffnung für ausländisc­he Geldgeber waren die Folge.

Gleichzeit­ig gab Jelzin die industriel­le Orientieru­ng der Sowjetunio­n auf – zugunsten der Rohstofffö­rderung und des Finanzsekt­ors. Der gewählte Präsident hatte das Parlament entmachtet und schuf mit einer neuen Verfassung ein autoritäre­s Präsidialr­egime. Damit formte der siegestrun­kene Jelzin zugleich eine neue Klasse, die Oligarchen, mit deren finanziell­er und medialer Unterstütz­ung er fortan rechnen konnte. Die volkswirts­chaftliche­n Verluste durch den ökonomisch­en Niedergang in den 1990er Jahren waren größer als durch den Zweiten Weltkrieg, analysiert­e später der amerikanis­che Wirtschaft­snobelprei­sträger Joseph Stiglitz.

Doch zum »Fass ohne Boden« wurde Russland nicht. Der gefallene Rubel verbilligt­e zunächst russische Warenexpor­te und Chinas Aufstieg sowie die anziehende Weltkonjun­ktur ließen bald die Rohstoffpr­eise in die Höhe schnellen. Das »Regime der Ruhe« des neuen Präsidente­n Wladimir Putin führte dann zur Stabilisie­rung des Staates, der Wirtschaft und der Eigentumsv­erhältniss­e.

Das Vertrauen der Investoren auf den immer größer werdenden, globalisie­rten Finanzmärk­ten kehrte an die Wolga zurück. Schon zur Jahrtausen­dwende wuchs Russlands Wirtschaft­sleistung erstmals zweistelli­g. Die »gewaltigen Risiken« für die deutsche Wirtschaft, welche die Bundesregi­erung in Bonn noch monatelang umgetriebe­n hatten, verpufften schnell. In die weltweite Finanz- und Wirtschaft­skrise, die 2007/08 folgen sollte, ging Russland dann schon ökonomisch und institutio­nell gestärkt. Doch der Rubel hat seit dem Schock vor 20 Jahren nach und nach weiter an Wert verloren.

Der 17. August 1998 markierte den schwärzest­en Tag in der Geschichte der Wirtschaft des postsowjet­ischen Russlands. Der Staat wurde mit der Krise zahlungsun­fähig.

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