Am schlimmsten traf es die Rentner
Eine Reportage aus Thessaloniki über Jungunternehmer, Scheinselbstständigkeit und den Boom der Armenküchen
Einen Grund zum Feiern sehen viele Griechen im Ende des dritten Kreditprogramms nicht. Sie sind viel zu sehr damit beschäftigt, ihren Alltag zu bewältigen. Und das ist schwer genug.
Drei alte Männer sitzen auf einer steinernen Parkbank am Aristotelesplatz im Herzen von Thessaloniki. Sie kommentieren, wer an ihnen vorbeigeht. Eine Gruppe Deutscher, unschwer an ihrer Kopfbedeckung zum Schutz gegen die Sonne zu erkennen. Oder an ihrer Sprache, die hier vertraut ist, da vor allem Nordgriechen einst als Gastarbeiter in Deutschland waren. Das politische Personal Deutschlands war seit dem Ende der Besatzung im Zweiten Weltkrieg nie so bekannt wie seit den »Memoranden« (Kreditprogrammen). »Was willst du, mein Mädchen?«, fragt einer der Senioren in der üblichen Anrede selbst für Frauen jenseits der Wechseljahre. Herr Sotiris, Mitte 70, trägt sein Hemd in der Hose. Die Kleidung ist Jahrzehnte alt, aber gebügelt. Für ihn gehören die Programme der »Troika« wohl oder übel dazu. »Sie nennen es künftig nicht mehr Kreditprogramm«, sagt er und verschiebt ein paar Perlen seines Komboloi – einer Kette, die Männer gerne als Fingerspiel benutzen –, »aber es gibt weiter Befehle, was Griechenland machen soll.«
Nicht wenige Griechen würden es sich anders wünschen. Dazu gehört auch Ministerpräsident Alexis Tsipras, der die Öffentlichkeit im Mai vor der Eurogruppensitzung, bei der über letzte Reformauflagen des zu Ende gehenden Programms beraten wurde, wissen ließ, dass man auf derartige Rettungsaktionen künftig nicht mehr angewiesen sei. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg? Wo kein Programm ist, gibt es kein Elend mehr? Finanzminister Efklidis Tsakalotos gab sich kürzlich in einem Interview bescheiden: »Es wäre anmaßend, hier von einem Erfolg zu sprechen, angesichts des Elends und der humanitären Krise.« Wenn selbst die Regierung sich das Jubeln versagt, wer in Griechenland kann die Jahre der Memoranden dann als Erfolg verbuchen? Unabhängig von Partei- und Schichtzugehörigkeit, die Bevölkerungsmehrheit sieht im Ende des Programms sicher keinen Anlass zum Feiern.
Zu Besuch im Büro von Urban Soul Project. Tasos Georgantzis (36) empfängt im Besprechungsraum. Der Arbeitsplatz ein einziger Showroom. Organisch-runde Formen schmiegen sich an die Wände. Das Unternehmen designt Innenräume, auch im Luxussegment. Es läuft immer besser. Mit der Politik von SYRIA habe das nichts zu tun, eher mit dem Boom der Branche, meint der Unternehmer. Sein Erfolgsrezept: eine Mischung aus »einfach gut sein und günstigen Preisen«. Bei der Gründung Ende 2009 hatte man nicht mit einer Finanzkrise gerechnet. Sie bedeutete aber auch keinen Rückschlag: »Wir kannten goldene Jahre nicht. Für uns gab es keine Enttäuschung, sondern ein langsames Wachsen.« Bis heute hat Tasos keine Angestellten entlassen, mittlerweile sind es 22 Mitarbeiter in Thessaloniki und drei in London. Ein Musterbeispiel für ein exportierendes, mittelständisches Unternehmen in Nischenmärkten wie Instrumentenbau, Marketing oder eben Design. Die Kreativbranche punktet auch in der Krise, denn sie kann auf gut ausgebildetes Personal zurückgreifen.
Doch der Braindrain, die Abwanderung von jungen Hochqualifizierten, bereitet Tasos Sorgen. Dem Stil der Firma können sich eher Personen seiner Generation anpassen. Genau aus ihr rekrutieren sich die mehr als eine halbe Million arbeitsfähigen Griechen, die weggezogen sind. »Man wollte nicht mehr in einem Land leben, dessen Zukunft nicht Besseres versprach.«
Der Zusammenhang zur Abwanderung wird in den Erfolgsnachrichten über die sinkende Arbeitslosigkeit nur selten gezogen, ohnehin melden sich die wenigsten je ab. Laut der Statistikbehörde Elstat sank die Quote zuletzt auf 19,5 Prozent, ein Rekordtief seit September 2011. Die Regierung rechnet mit einem Rückgang auf 18,4 Prozent bis Ende des Jahres.
Wie stark ist das auf den Wegzug Betroffener zurückzuführen?
Auch die von den Gläubigern verlangten Privatisierungsprojekte haben nichts an der Arbeitsmarktsituation verbessert. Von den errechneten 50 Milliarden wurden durch die Veräußerung des öffentlichen Besitzes bis 2017 nur 5,1 Milliarden Euro eingenommen. Unternehmer freuen sich über Privatisierungen, weil sie den Standort aufwerten. Die deutsche Fraport AG hat mittlerweile mehrere Flughäfen in Griechenland gepachtet, darunter den »Makedonia Airport« in Thessaloniki. Der neue Betreiber aus dem Ausland hat den Wartebereich vergrößert, auch wurden die Sanitäranlagen saniert. Doch neue Jobs entstanden nicht. Weil der Staat laut Übernahmevertrag für die Sicherheit verantwortlich ist, hat er anderswo Personal abgezogen. In Thessaloniki waren das zum Beispiel Fachkräfte der Feuerwehrwache, die jetzt am Flughafen im Einsatz sind und anderswo fehlen. Nach der Feuerkatastrophe in Attika, seit der auch die Auswirkungen der Sparmaßnahmen auf Rettungskräfte diskutiert werden, liest sich das wie ein Skandal.
»Die Mehrheit der Griechen hat ihren sozialen und ökonomischen Status verloren«, seufzt Tasos. Am schlimmsten treffe es die Rentner. Ihre letzten Lebensjahre hätten sie anhand von Einkommensgarantien geplant, die nicht eingehalten worden sind. »Manche wurden Bettler, weil sie ihre Kredite nicht mehr abbezahlen können.« 65 Prozent der 40 000 Obdachlosen sind neuobdachlos, schrieb das Magazin »The TOC« kürzlich.
Das sind Menschen, die Popi Mamali bedient. Die Rentnerin arbeitet seit 15 Jahren in der Suppenküche der Kirche Panagia Dexia. Hierher kommen täglich 130 Menschen und »bitten um ein wenig Essen«, wie sie sagt. Der Bedarf sei enorm. Armut gab es früher auch, berichtet Popi, etwa als die Kriegsflüchtlinge vom Balkan kamen. »Dann waren wir dran. Es sind immer mehr geworden, auch auf der Straße.« Und so gibt es immer mehr Suppenküchen. Ein Netz von meist weiblichen Ehrenamtlichen stemmt die Strukturen innerhalb der orthodoxen Kirche. Die Küchen finanzieren sich über Spenden und durch die Regionalkirche des Oberbischofs, die wiederum Staatsgelder erhält. Mehr als 100 Einrichtungen allein in Thessaloniki stellen täglich mindestens je 30 Portionen Essen bereit.
Krisa Kopa hat sich in der Krise selbstständig gemacht, aber nicht freiwillig. »Die Firma, für die ich arbeitete, konnte mich nicht anstellen«, sagt die 35-Jährige, die kurz vor den Memoranden aus Großbritannien zurückgekehrt war. Entweder ziehen Unternehmen wegen der hohen Abgaben von 40 Prozent ins Ausland oder verlagern Aufträge. Beschäftigte werden als »entrechtete Freelancer« geführt, damit der Arbeitgeber seinen Sozialversicherungspflichten entgeht. Laut Eurostat betrug die Selbstständigenquote 2015 bereits 30,7 Prozent, vor der Krise (2008) waren es 21,3 Prozent.
Auch für Krisa gehört zum Arbeiten der »Blokaki« dazu, der Schreibblock mit Durchschlag, auf dem sie ihre Rechnungen notiert. Normalerweise kann der Fiskus die Einnahmen derer, die als Selbstständige für den Privatsektor arbeiten, kaum kontrollieren. Anders bei Krisa, die europäische Gelder für die Gemeinde Sykies beantragt. Da sie für die öffentliche Verwaltung arbeitet, muss sie ihre Einnahmen korrekt versteuern.
Von ihrem Job leben kann sie nur dank ihrer Familie, die von der einstigen Position des Vaters zehrt. Über 100 Euro gehen monatlich an die Versicherung, eine Summe, die sie sich eigentlich nicht leisten kann. Ohne Versicherung aber keine Arbeit. »Es ist ein Teufelskreis«, klagt Krisa. Die Besteuerung von 60 Prozent seit den Memoranden begünstigt Steuerflucht, bei geringem Lohn unter Umständen eine Frage der Existenz. SYRIZA hat für die Zeit nach dem 20. August Steuererleichterungen in Aussicht gestellt.
Die Rentner im Park genießen trotz aller Probleme und Nöte ihre Aussicht im Hier und Jetzt. »Das gute Wetter, natürlich das Essen, die Landschaft und die Denkweise der Leute«, sagt Herr Sotiris.