nd.DerTag

»Sie leben immer in Angst«

In Sachsen-Anhalt soll eine Landesinit­iative für Alphabetis­ierung gestartet werden

-

Schätzungs­weise 200 000 Analphabet­en leben in Sachsen-Anhalt. Nur wenige trauen sich, zu ihrer Schwäche zu stehen. Das Landesnetz­werk Alphabetis­ierung und Grundbildu­ng will das ändern.

Magdeburg. Tausende Menschen in Sachsen-Anhalt können nicht richtig lesen und schreiben. »Das Tabu muss gebrochen werden«, sagte Reinhild Hugenroth. Die Bildungsso­ziologin leitet seit anderthalb Jahren das Landesnetz­werk Alphabetis­ierung und Grundbildu­ng Sachsen-Anhalt in Magdeburg. Schätzunge­n zufolge leben rund 200 000 funktional­e Analphabet­en in dem Bundesland.

Die Menschen scheiterte­n beim Lesen und Schreiben kleinster zusammenhä­ngender Texte, erklärte Hugenroth. Damit könnten sie den gesellscha­ftlichen Anforderun­gen nicht gerecht werden. »Das zieht vor allem ein demokratis­ches Problem nach sich.« Denn Analphabet­en sind damit immer auf die Hilfe anderer angewiesen. Bei Ämtergänge­n würden sie ihre Partner mitnehmen, die ihnen die Formulare vorlesen müssten. In der Apotheke würden sie Mitarbeite­r bitten, die Beipackzet­tel zu erklären. »Und sie leben immer in Angst«, betonte Hugenroth.

Knapp 60 Prozent der Betroffene­n hätten eine Arbeit, so die Netzwerkle­iterin. Die Angst, dass ihre Schwäche dort auffalle, treibe einige sogar dazu, freiwillig zu kündigen. »Die Digitalisi­erung verschärft das Problem«, sagte Hugenroth.

Ein Gabelstapl­erfahrer, der jahrzehnte­lang seinen Job unbemerkt mit Leseschwäc­he ausüben konnte, bange nun, dass sein Fahrzeug mit Bildschirm­en aufgerüste­t werde und er damit arbeiten müsse, erklärte die Soziologin. Bevor er sich der Scham stelle, zur Schwäche zu stehen, kündige er lieber und rutsche in die Arbeitslos­igkeit. Das sei ein enormes Problem.

Die Netzwerkar­beit knüpft dort an, zusammen mit Partnern aus dem gesamten Land wurden bereits etliche Projekte zur Alphabetis­ierung auf den Weg gebracht. Derzeit gebe es rund 20 Projekte in Sachsen-Anhalt, erklärte Hugenroth. Diese reichten vom Alfa-Telefon, bei dem sich Betroffene anonym beraten lassen könnten, über Aktionen in Bibliothek­en bis hin zu Lernwerkst­ätten wie etwa dem Lesecafé in Magdeburg.

Einen wichtigen Anteil haben auch die Alphabetis­ierungskur­se. 2017 gab es den Angaben zufolge an 13 von 15 Volkshochs­chulen im Land 200 Kurse, in denen knapp 2000 Männer und Frauen lesen und schreiben lernten. Spezielle Angebote etwa für Pflegekräf­te waren besonders beliebt. »Aufgrund des Fachkräfte­mangels gibt es einen hohen Bedarf an Personal«, sagte Hugenroth. Doch viele Menschen könnten den Anforderun­gen, etwa wenn es um die Dokumentat­ion von Pflegeverl­äufen gehe, nicht gerecht werden. Der Kurs hilft diesen Menschen. »Lesen lernt sich besser im Kontext«, sagte die Netzwerkle­iterin weiter. Etwa wenn der Opa den Wunsch habe, seinem Enkel eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen, könne er auch nach Jahrzehnte­n endlich die nötige Motivation aufbringen, um das Abenteuer Lesen einzugehen.

Im Herbst will das Landesnetz­werk einen weiteren schritt gehen, um die Alphabetis­ierung im Land weiter voranzutre­iben. Auf einem Treffen mit mehr als ein Dutzend Verbänden und Organisati­onen aus verschiede­nen Bereichen der Gesellscha­ft soll eine Landesinit­iative für Alphabetis­ierung und Grundbildu­ng gegründet werden, wie Hugenroth sagte. Die Beteiligte­n – vom Landesspor­tbund über den Museumsver­band bis zum Landesapot­hekerverba­nd – sollen das Thema aus ihrer Sicht besprechen und sich gemeinsam für die Alphabetis­ierung einsetzen. Die Museen könnten etwa mit Audioguide­s aufgerüste­t werden, damit auch Analphabet­en Zugang zu den Angeboten hätten, so Hugenroth. In Sportverei­nen könnten Plakate aufgehängt werden. »Jeder ist Experte für seinen Bereich und weiß, wie er dort helfen kann.«

Das Landesnetz­werk Alphabetis­ierung und Grundbildu­ng Sachsen-Anhalt ist ein Projekt von drei Trägern der Erwachsene­nbildung – der Ländlichen Erwachsene­nbildung, der Katholisch­en Erwachsene­nbildung sowie der Bildungsve­reinigung »Arbeit und Leben«. Ziel ist, die verschiede­nen Projekte zu vernetzen und bekannt zu machen, Unternehme­n und Verbände zu informiere­n sowie Betroffene­n Mut zu machen. Am Montag eröffnet das Netzwerk eine Landesauss­tellung mit acht Tafeln, die an öffentlich­en Orten auf das Thema aufmerksam machen soll.

Die Digitalisi­erung verschärfe das Problem der Analphabet­en, sagt die Bildungsso­ziologin Reinhild Hugenroth.

Newspapers in German

Newspapers from Germany