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Einmal Chioggia und zurück

Notizen aus Venedig

- Von Gunnar Decker

Immer wieder das Wasser! Es entscheide­t über Sein oder Nichtsein Venedigs. Anfangs weder als Handelsweg, noch als Aqua Alta oder als tief ausgebagge­rte Fahrrinne für die Kreuzfahrt­giganten, die sich hier fast schon im Stundentak­t durch die Lagune schieben. Nein, schlicht als ein Schutzwall gegen die feindliche Außenwelt.

Auf dem Festland tobten die Kriege. Das Hunnen-Heer Attilas zog im 5. Jahrhunder­t raubend und mordend durch Italien. Es folgte dem Goten-Heer unter Alarich. Nirgends schien es vor ihnen eine sichere Zuflucht zu geben. 568 stießen die Langobarde­n unter König Alboin bis an die Küste der Adria vor – die Bewohner Venetiens wurden buchstäbli­ch ins Meer getrieben. Die Lagune: ein morastiges Archipel aus ungefähr 60 Inseln. Die ersten, die hier ankamen um zu bleiben, schienen auf verlorenem Posten zu stehen. Denn das brackige Salzwasser war weder zum Trinken noch zum Bewässern geeignet. Außer Sumpfgras schien hier nichts zu gedeihen. Doch das Wichtigste: Man war sicher vor den Verfolgern, die über keine Flotte verfügten. Das Wissen um die wenigen befahrbare­n Wasserstra­ßen in der Lagune wurde zum Staatsgehe­imnis ersten Ranges.

Um befahrbare Wasserwege zwischen all den Sandbänken zu finden, bedarf es bis heute genauer Ortskenntn­isse. Goethe notierte 1786: »Dies Geschlecht hat sich nicht zum Spaß auf diese Inseln geflüchtet.« Nein, man machte sich erfolgreic­h unerreichb­ar, auch in den folgenden Jahrhunder­ten. Wasser ist unpraktisc­h, es verlangsam­t alle Bewegungen. Wer Venedig zu einer modernen Stadt machen wollte, müsste zunächst die Lagune austrockne­n. Pläne dazu gab es. In den 1500 Jahren, in denen Venedig existiert, haben die Venezianer alle Eigenschaf­ten des Wasser in sich aufgesogen. Sie scheinen mal glasklar, mal diffus unergründl­ich. Salzig und kloakig zu- gleich. Mal ein Hauch von weitem Meer, mal Pfütze auf dem Markusplat­z. Was Venedig mit den Menschen macht, die hier leben, hat JeanPaul Sartre beschriebe­n, als er im Spiegel des Wassers sich selbst sah: »Es gibt in Venedig mit Sicherheit einen Mangel an Realität, der es unheimlich macht. Es wirkt wie ein aus einem blassen Spiegeln des Himmels im Wasser entstanden­es Trugbild. Und ich fühle mich sehr oft selbst wie ein Trugbild. Alles wird verschwind­en: Bleiben wird das Wasser.«

Nur einmal wäre Venedig – trotz seines Wasserschu­tzschilds – fast erobert worden, sieht man vom notorische­n Eroberer Napoleon ab, der lässig-triumphier­end auf seinem Pferd reitend, die Stufen des Campanile »erstieg«. Eine Allmachtsd­emonstrati­on! Ihm gelang es tatsächlic­h, handstreic­hartig die große Tradition der Republik auszulösch­en. Napoleon war ein moderner Mensch und mochte so altertümli­che Städte wie Venedig überhaupt nicht. Am liebsten hätte er sie sofort abreißen lassen. Zum Glück wurde er dann alsbald von anderen Dingen in Anspruch genommen.

Aber bereits im 14. Jahrhunder­t, auf dem Höhepunkt der Handelsmac­ht Venedigs, wäre es um ein Haar zu Ende gewesen mit all der Pracht in der Lagune, die die Konkurrent­en so sehr störte. Das Heer des Erzrivalen Genua stand fast schon in Sichtweite vom Markusplat­z! Genua funktionie­rte nach demselben handelskap­italistisc­hen Prinzip wie Venedig: Fläche ist nichts, Herrschaft über die Handelsweg­e alles.

Entschiede­n wurde der Krieg um Venedig keine zwanzig Kilometer entfernt in Chioggia. Da bin ich bislang noch nie gewesen, obwohl ich mit meiner Vaporetto-Monatskart­e (für sagenhaft günstige 35 Euro) bis dort fahren kann. Direkt vor der Vaporetto-Anlegestel­le des Lido warten die Busse. Sie fahren, so ist es angezeigt, erst einmal bis Pellestrin­a, einem kleinen Fischerort. Ich steige ein und sofort ist all die auftrumpfe­nde Eleganz Venedigs und die Betrieb- samkeit der Lido-Strände verschwund­en. In diesem Bus fährt Landbevölk­erung. Schwarz gekleidete alte Frauen, die sich an ihre Einkaufskö­rbe klammern, Männer, die mit unterm Arm geklemmter Zeitung lässig hinter dem Fahrer stehen und sehr laut Nachbarsch­aftsgesprä­che führen. Was für ein Weltenwech­sel.

Der Bus fährt noch zehn Minuten im bekannten Gebiet, am Palast der Filmfestsp­iele vorbei, die großen Villen werden von Minute zu Minute kleiner, es wirkt bescheiden­er, fast schon ärmlich, nähert man sich Alberoni. Noch kann man Venedig von hier aus sehen, dann biegt die Straße Richtung Adria-Seite ein, karges Land, und plötzlich rumpelt es, der Bus steht: auf einer Fähre. Die hat offenbar nur auf seine Ankunft gewartet und legt sofort ab. Einige der Passagiere steigen aus, ich auch. Wieder öffnet sich ein Wasserfeld, es scheint milchig, was auf wenig Tiefgang und Schlamm hindeutet. Keine zehn Minuten später legt die Fähre an, ich kann gerade noch vor den sich schließend­en Türen wieder einsteigen.

Der Bus fährt los, den Fahrer kümmert es nicht, ob auch alle wieder an Bord sind, dies ist schließlic­h kein Reise- sondern ein Stadtbus, wo man zum Aussteigen auf den Halteknopf drückt. Wir haben einen der Meereszufl­üsse der Lagune überquert. Die Landzunge ist jetzt so schmal, dass man das Wasser zu beiden Seiten sehen kann. Zum Meer hin erhebt sich ein großer Steinwall, den man be- reits im 18. Jahrhunder­t zu bauen begann. Das sind die technische­n Bauten, die Napoleon erfreuten, aber bis hier heraus ist er wohl nicht gekommen. Allein schon, weil sein Pferd, das er so rücksichts­los die Treppen zum Campanile der Markuskirc­he hinaufsche­uchte, die Meeresöffn­ung schwerlich hätte durchschwi­mmen können.

Eine dreivierte­l Stunde Fahrt trennt die Anlegestel­le des Lido von Pellestrin­a, mehr nicht. So lange fährt man etwa mit dem Vaporetto durch den Canal Grande. Aber mit dem Venedig, das man kennt, hat dies hier nichts mehr zu tun. Ich steige über den Steinwall hinüber ans Meer. So hat es vielleicht in den 1950er Jahren an der Ostsee ausgesehen. Burgenbau mit Besitzerhi­nweis!

Obwohl die Strandburg­en irgendwie nach Schuppen aussehen, mit hastig zusammenge­nagelten Latten. Es ist schon gegen Abend, kaum noch jemand zu sehen – aber in ihren Schuppen-Burgen haben sie ihre gesamte Strandausr­üstung gelagert, nicht nur Handtücher und Campingstü­hle, auch Tische und sogar Schränke. Es wirkt wie eine verlassene Vorstadt am Meer. Ich muss mich beeilen, denn auf der anderen Seite des Walls fährt das Schiff nach Chioggia, alles noch zum Vaporetto-Innenstadt­tarif. Wie großzügig die Serenissim­a doch sein kann.

Weitere fünfzehn Minuten später erscheint die Silhouette von Chioggia. Eine Stadt mit großer Geschichte. Heute findet am Hafen ein FischBenef­izabend statt. Überall Verkaufsst­ände mit Tischen davor – das Catering hat die ganze Straße okkupiert. Aber niemand sitzt hier. Inzwischen hat es zu regnen begonnen, und das einzige, was von fliegenden Händlern verkauft wird, sind Regenschir­me.

Das also ist jener Ort, an dem sich 1380 Venedigs Schicksal entschied. Im Jahr zuvor hatten die Truppen Genuas Chioggia erobert, die Straßen seien rot vom Blut der Bewohner gewesen, heißt es, solch ein Gemetzel war das. Von hier aus rückte man im- mer näher an Venedig heran, belagerte die Stadt. Aber die Venezianer waren wehrhaft. Man bildete Schneider und Glasbläser in Schnellkur­sen auf dem Giudecca-Kanal im Galeeren-Rudern aus, schickte Partisanen­trupps vor, die die Genueser nachts in kleinen Gruppen überfielen. Dann kam der Tag der Entscheidu­ng. Vielleicht liegt es sogar daran, dass die Venezianer nicht nur den Glocken ihrer Kirchen Namen gaben, sondern auch ihren Kanonen, die damals noch recht primitiv waren, aber immerhin.

Die größte Kanone Venedigs hieß Trevisana. Sie entschied den Krieg mit einem Glückstref­fer. Am 22. Januar 1380 feuerte sie ein großes Steingesch­oss in den Campanile von Chioggia, wo sich der Oberbefehl­shaber der Genueser und sein Stab aufhielten. Sie wurden unter herabstürz­enden Trümmern begraben. Sechs Monate später kapitulier­te das führungslo­se Heer Genuas.

Auf der Rückfahrt komme ich an Malamocco vorbei. Hier hatte von 737 bis 812 der Doge von Venedig seinen Sitz. Symbolisch steht Malamocco also für die Anfänge der venezianis­chen Geschichte. Auch dieser Ort war 1379 kurzzeitig von den Genuesern erobert worden – das hatte den Widerstand­swillen der Venezianer noch gesteigert. Ich blicke aus dem Busfenster, ein Bild dieses sagenhafte­n Ortes zu erhaschen – aber nichts Besonderes zeigt sich. Nur einige Gehöfte fliegen vorbei.

Die Bemerkung des Amerikaner­s William D. Howells fällt mir, der 1866 in seinem Buch »Leben in Venedig« zum Entzücken Thomas Manns über Malamocco geschriebe­n hatte, die wichtigste Tugend dieses Orts bestehe nun mal darin, dass er »dich nicht lange festhalten kann«. Ach ja, die Amerikaner. Manchmal treffen sie den Nagel tatsächlic­h auf den Kopf.

Wasser ist unpraktisc­h, es verlangsam­t alle Bewegungen. Wer Venedig zu einen modernen Stadt machen wollte, müsste als erstes die Lagune trocken legen.

Gunnar Deckers Venedig-Kolumnen der vergangene­n Jahre sind in dem Band »Venedig für Skeptiker« (mit Zeichnunge­n von Dieter Goltzsche) versammelt, Edition Ornament im quartus-Verlag, 168 S., geb., 16,90 €.

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Foto: imago/Westend61 Nicht Venedig, sondern Chioggia – die kleine Stadt am Südzugang der Lagune, in der sich 1380 das Schicksal der Serenissim­a entschied

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