Marktanspannungsgeladen
Im boomenden Leipzig werden bezahlbare Wohnungen immer knapper
Berlin. Früher zog es junge Leute nach Kreuzberg oder Prenzlauer Berg, später nach Treptow oder Neukölln. Weil schließlich die gesamte Innenstadt von Berlin für Geringverdiener unbezahlbar wurde, galt Leipzig plötzlich als Alternative. Aber auch das hat sich herumgesprochen. Die Stadt ist auf knapp 600 000 Bewohnerinnen und Bewohner angewachsen und boomt weiter.
Naturgemäß hat auch die Immobilienwirtschaft festgestellt, dass sich in Leipzig viel Geld verdienen lässt. Statt Häuser instand zu halten, werden sie gleich rundum modernisiert und die Mieten kräftig erhöht; in sechs Jah- ren stiegen diese durchschnittlich um 38 Prozent. Kürzlich hat auch der Leipziger Stadtrat festgestellt, dass der Wohnungsmarkt »in die Phase der Marktanspannung getreten« sei. Nun soll gebaut werden: bis 2030 fast 80 000 neue Wohnungen. Das ist grundsätzlich kein schlechter Ansatz, löst aber noch längst nicht alle Probleme. Wohnungsgenossenschaften, die ihren Beitrag zu den Bauplänen leisten sollen, geben zu bedenken, dass Mieten im Neubau trotz Förderung für sozialen Wohnungsbau nicht unter 6,50 Euro pro Quadratmeter zu drücken seien. »Sozialverträgliche Mieten sind im Neubau nicht mehr möglich«, sagt et- wa Jörg Keim von der Wohnungsgenossenschaft Kontakt. Er und seine Kollegen halten die »Wiederbelebung« von leer stehenden Wohnungen für sinnvoller – oder den Umzug ins Umland. Und überhaupt sei es nicht sicher, dass die Stadt weiterhin so schnell wachsen werde.
Für Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses Thierbacher Straße 6 im Szeneviertel Connewitz kommen die Überlegungen ohnehin zu spät: Sie kämpfen jetzt gegen Entmietung und horrende Mieterhöhung – denn Alternativen um die Ecke gibt es nicht mehr.
Weil Leipzig wächst, werden preiswerte Wohnungen knapper. Während man in der Stadt über die richtige Antwort streitet, bekommen Mieter im Szeneviertel Connewitz die Macht des Marktes zu spüren. Die Schornsteine sind weg. Deshalb, so informiert der Schornsteinfeger an der Haustür der Thierbacher Straße 6 im Leipziger Süden, dürfen die Öfen und Durchlauferhitzer nicht mehr benutzt werden. Für die Mieter ist das ein Problem, auch wenn bis zum Winter noch etwas Zeit ist. »Es gibt kein warmes Wasser«, sagt Rosa. Die junge Frau, die mit ihrem Sohn und einer anderen Alleinerziehenden in einer WG im dritten Stock lebt, hat freilich bald auch keine Räume mehr, in denen sie Warmwasser nutzen könnte. Sie solle, sagt der Vermieter, »einige Bereiche« ihrer Wohnung »komplett beräumen«, damit Handwerker Gauben im Dach erneuern können. Betroffen sind: Küche und Bad.
Die Mieter in der Thierbacher 6 haben lange gefordert, dass Handwerker erscheinen; sie sind dafür sogar vor Gericht gezogen. Das Haus ist in marodem Zustand: undichte Fenster; durchgetretene Dielen, die unter mancher Toilette und Wanne wegfaulen; Wasserleitungen aus Blei. Der Eigentümer, der in Baden-Württemberg lebt und das Haus nach 1990 zusammen mit anderen Leipziger Immobilien erwarb, stellte sich stur – bis jetzt. Nun wird das Dach abgedeckt; Löcher werden in Wände gebrochen, Zimmer gesperrt. Statt schrittweiser Instandhaltung gibt es eine grundlegende Modernisierung – mit Folgen für die Bewohner: »Die Mieten sollen pauschal um 530 Euro steigen«, sagt Rosa. Und weil das schneller möglich ist, wenn neue Verträge geschlossen werden, wird den bisherigen Mietern das Leben so schwer wie möglich gemacht – so jedenfalls sehen diese die Lage: »Alles, was der Eigentümer tut, hat nur einen Zweck: Das wir rausgehen und nicht wiederkommen.«
Es ist eine Strategie, die in Leipzig nicht neu ist: Teils drastische Fälle von »Entmietung« habe es auch in früheren Jahren schon gegeben, »aber nur in wenigen, sehr gefragten Vierteln«, sagt Roman Grabolle vom Netzwerk »Leipzig – Stadt für alle«. Das Waldstraßenviertel oder die Südvorstadt waren schon begehrt, als in anderen Leipziger Quartieren noch ganze Karrees von Gründerzeithäusern leer standen und verfielen. Das ist lange her. Die Stadt boomt; neben Studenten ziehen auch junge Familien zu. Die Einwohnerzahl hatte die Marke von 600 000 zu Jahresbeginn fast erreicht; im Rathaus träumt man von der 700 000. Überregionale Medien sprechen gern von »Hypezig« und sagen der »Schwarmstadt« eine glänzende Zukunft voraus.
Für Menschen, die eine Wohnung suchen, stellt sich die Lage nicht mehr glänzend dar. Nicht nur in Connewitz ist es für Normalverdiener inzwischen nahezu unmöglich, eine bezahlbare Unterkunft zu finden. Auch einst verrufene Viertel wie Lindenau und dort zum Beispiel Häuser entlang der viel befahrenen Merseburger Straße sind inzwischen großteils saniert, und obwohl teils Mieten von sieben Euro pro Quadratmeter verlangt würden, seien die Wohnungen »im Nu vermietet«, sagt Grabolle. Insgesamt ist die durchschnittliche Angebotsmiete allein von 2012 bis 2016 um 21 Prozent auf 6,15 Euro gestiegen; inzwischen liegt sie bei 6,50 Euro – ein Plus von 38 Prozent.
Die Zahl von 6,15 Euro findet sich in einer Fortschreibung des Wohnungspolitischen Konzepts für Leipzig, das der Stadtrat kürzlich behandelte und in dem erstmals offen festgestellt wird, dass der Leipziger Wohnungsmarkt »in die Phase der Marktanspannung getreten« sei. Das merken nicht nur Wohnungssuchende, sondern auch Mieter wie in der Thierbacher Straße 6, die in preiswerten Wohnungen leben, aber verdrängt werden sollen. Vor einigen Jahren, sagt Grabolle, hätten Betroffene einer Entmietung »drei Häuser weiter oder in die Nachbarstraße« ziehen können. Inzwischen ist es unwahrscheinlich, dass sie dort noch günstige Wohnungen finden. Die Stadt ist nämlich zum Großteil saniert, teuer – und voll.
Wie sie damit umgehen soll – darüber entbrannte kürzlich eine skurrile Debatte. Das Rathaus hat die Devise ausgegeben: Bauen, bauen, bauen. Das Wohnungspolitische Konzept rechnet vor, dass bis zum Jahr 2030 in der Stadt 77 800 Wohnungen und Einfamilienhäuser neu errichtet werden müssen. Dazu beitragen sollten auch die Genossenschaften, die in der Stadt gut 53 000 und damit ein Fünftel der Wohnungen bewirtschaften. Sie sollten sich verpflichten, bis zu 700 Wohnungen neu zu bauen, verweigerten einem geplanten Bündnis aber ihre Zustimmung. Die Pläne der Stadt gingen »weit am Ziel vorbei«, sagte Wolf-Rüdiger Kliebes von der »Vereinigten Leipziger Wohnungsgenossenschaft« (VLW) und verlangte mehr »Augenmaß«. Axel Viehweger, Vorsitzender des Verbandes der sächsischen Wohnungsgenossenschaften, fügte an, in Leipzig sei nicht der Wohnungsmarkt angespannt, sondern nur »die Diskussion darüber«.
Die Genossenschaften verweisen auf Leerstand in ihren eigenen Beständen. Deren Zahl beziffern sie auf 3814: eine »Fluktuationsreserve«, die mit 7,2 Prozent deutlich höher sei als etwa in Dresden. Kliebes berichtet von Altbauhäusern der VLW, die vor rund 20 Jahren mangels Nachfrage »eingefroren« worden seien und nun wieder nutzbar gemacht werden sollen. Viehweger wiederum rät zur Flucht aufs Land. Es gebe viele bezahlbare Wohnungen in Kleinstädten im Leipziger Umland wie Delitzsch oder Borna, »und mit der S-Bahn ist man dennoch in 16 Minuten in der Oper«.
Die Genossenschaften halten solche Ansätze für wirtschaftlicher als Neubau. Der sei zum einen wegen gestiegener Baukosten und hoher Standards zu teuer: Die Miete sei, obwohl das Land den sozialen Wohnungsbau wieder fördert, nicht unter 6,50 Euro pro Quadratmeter zu drücken – zu viel für sozial Bedürftige, denen die Stadt derzeit nur 4,79 Euro Kaltmiete für die Kosten der Unterkunft bewilligt. »Sozialverträgliche Mieten«, sagt Jörg Keim von der Wohnungsgenossenschaft Kontakt, »sind im Neubau nicht mehr möglich« – in den »wiederbelebten« Leerstandswohnungen oder im Umland aber schon. Dort solle Geld investiert werden. Dagegen sei es »nicht sinnvoll, weiter Fördermittel in Trendviertel wie die Südvorstadt zu stecken«, sagt Kliebes. Es könnten, fügt Viehweger an, »nun einmal nicht alle am Leipziger Marktplatz wohnen«.
Darüber hinaus zweifeln die Genossenschaften an den Prognosen, die den derzeitigen Planungen in Leipzig zugrunde liegen. 700 000 Einwohner – das sei »eine Blase«, sagt Kliebes. Er vermutet, dass der Zustrom in die »Schwarmstadt« in absehbarer Zeit abebbt, »weil aus dem Umland irgendwann alle hergezogen sind«. Er geht davon aus, dass die Einwohnerzahl nicht über 620 000 steigt. Dafür reichten die vorhandenen Reserven und vorsichtiger Neubau.
Kritiker halten das für übertrieben pessimistisch, haben aber eine Erklärung für die Skepsis der Genossenschaften. Diese wurden schon einmal Opfer nicht eintreffender Vorhersagen: als sie wegen eines prognostizierten starken Schrumpfens der Bevölkerung viele Wohnungen abrissen. Auch jetzt ist keineswegs sicher, ob sich die optimistischen Wachstumsszenarien bewahrheiten. Die zunehmende Verknappung bezahlbarer Wohnungen, steigende Mieten und ein angespannter Wohnungsmarkt dürften durchaus dazu beitragen, dass der Zuzug abflaut, sagt Roman Grabolle von »Stadt für alle«. Zudem überlegten zunehmend junge Familien, ob sie weiter den Großteil ihrer Einkommen für das Wohnen in Leipzig aufbringen oder lieber in das Umland abwandern sollten – wobei das »auch nur für ein bestimmtes Milieu in Frage kommt«, merkt Grabolle an: »Eine Alleinerziehende, die bei Amazon Regale einräumt oder nachts in der Uni putzt, kann sich Stadtflucht nicht leisten.«
Grundsätzlich sieht freilich auch er die Euphorie über das Wachstum der Stadt für übertrieben an; er hält Szenarien für realistischer, die für 2030 von einer Einwohnerzahl um 650 000 ausgehen. Darauf müsse sich die Wohnungspolitik einstellen. Grabolle betont aber auch, dass »wir die Probleme nicht erst in zwölf Jahren haben, sondern jetzt«. Die Lage sei schwierig vor allem für jene, die weniger als das Durchschnittseinkommen verdienen. Zwar verfügt nach Angaben der Stadt inzwischen fast jeder dritte Haushalt über mehr als 2300 Euro im Monat – eine gute Voraussetzung, um sich die Miete in einem sanierten Gründerzeithaus leisten zu können. Doch 46 Prozent der Haushalte haben nur zwischen 1100 und 2300 Euro netto zur Verfügung. Im Schnitt müssen sie 30 Prozent davon für die Miete berappen. In unteren Einkommensschichten, so Grabolle, liege der Wert eher bei 40 Prozent und mehr. Und weil die Mieten weiter steigen, werden immer mehr Wohnungen für Menschen mit niedrigen Einkommen unerreichbar.
Die Stadt versucht, in ihrem Wohnungspolitischen Konzept ein wenig gegenzusteuern; unter anderem wird ein eigenes Förderprogramm für sozialen Wohnungsbau in Aussicht gestellt. Beim Freistaat solle eine Senkung der Kappungsgrenze für Mieterhöhungen beantragt werden. Auch könnten für einige Quartiere »soziale Erhaltungssatzungen« greifen. Damit habe Berlin gute Erfahrung gemacht, sagt Grabolle. Generell aber seien viele Maßnahmen »stumpfe Schwerter«, die den kapitalistischen Wohnungsmarkt nicht aushebeln und an der Logik von knapper werdendem Wohnraum und steigenden Mieten wenig ändern. Das sei, sagt Grabolle, »ohne wirksame Regulierungen dann eben das normale Marktgeschehen«.
Das wissen auch die Mieter in der Thierbacher Straße 6. Sie appellieren an das Gewissen des Eigentümers ihres Hauses, der mit den Bauarbeiten für unzumutbare Zustände im Haus sorgt. Zugleich sei ihnen aber auch klar, dass »der Fokus auf Profitmaximierung liegt«, sagt Rosa. Das Haus steht in einer ruhigen Seitenstraße nur wenige Gehminuten von den Magistralen im Szeneviertel Connewitz entfernt; für eine Wohnung von mehr als 100 Quadratmetern würde hier auch eine vierstellige Miete bezahlt.
Kategorien wie »Gewissen« treten da in den Hintergrund: »Das passiert alles in einer kapitalistischen Organisation von Wohnen und Leben«, sagt Rosa. Die Mieter müssen sich deshalb auf andere Formen des Widerstands verlassen: Sie klagen vor Gericht, verbünden sich mit anderen von Entmietung bedrohten Hausgemeinschaften, organisieren Demonstrationen und machen den Fall mit einer eigenen Seite im Internet öffentlich. »Unsere einzige Möglichkeit ist es, öffentlichen Druck aufzubauen«, sagt Rosa. Kürzlich wurde dazu ein Video gedreht, in dem ein Bewohner einen anrührenden Satz sagt: »Wir alle wollen hier wohnen. Der einzige, der das nicht will, ist der Eigentümer.«