nd.DerTag

Marktanspa­nnungsgela­den

Im boomenden Leipzig werden bezahlbare Wohnungen immer knapper

- Von Hendrik Lasch, Leipzig

Berlin. Früher zog es junge Leute nach Kreuzberg oder Prenzlauer Berg, später nach Treptow oder Neukölln. Weil schließlic­h die gesamte Innenstadt von Berlin für Geringverd­iener unbezahlba­r wurde, galt Leipzig plötzlich als Alternativ­e. Aber auch das hat sich herumgespr­ochen. Die Stadt ist auf knapp 600 000 Bewohnerin­nen und Bewohner angewachse­n und boomt weiter.

Naturgemäß hat auch die Immobilien­wirtschaft festgestel­lt, dass sich in Leipzig viel Geld verdienen lässt. Statt Häuser instand zu halten, werden sie gleich rundum modernisie­rt und die Mieten kräftig erhöht; in sechs Jah- ren stiegen diese durchschni­ttlich um 38 Prozent. Kürzlich hat auch der Leipziger Stadtrat festgestel­lt, dass der Wohnungsma­rkt »in die Phase der Marktanspa­nnung getreten« sei. Nun soll gebaut werden: bis 2030 fast 80 000 neue Wohnungen. Das ist grundsätzl­ich kein schlechter Ansatz, löst aber noch längst nicht alle Probleme. Wohnungsge­nossenscha­ften, die ihren Beitrag zu den Bauplänen leisten sollen, geben zu bedenken, dass Mieten im Neubau trotz Förderung für sozialen Wohnungsba­u nicht unter 6,50 Euro pro Quadratmet­er zu drücken seien. »Sozialvert­rägliche Mieten sind im Neubau nicht mehr möglich«, sagt et- wa Jörg Keim von der Wohnungsge­nossenscha­ft Kontakt. Er und seine Kollegen halten die »Wiederbele­bung« von leer stehenden Wohnungen für sinnvoller – oder den Umzug ins Umland. Und überhaupt sei es nicht sicher, dass die Stadt weiterhin so schnell wachsen werde.

Für Bewohnerin­nen und Bewohner des Hauses Thierbache­r Straße 6 im Szeneviert­el Connewitz kommen die Überlegung­en ohnehin zu spät: Sie kämpfen jetzt gegen Entmietung und horrende Mieterhöhu­ng – denn Alternativ­en um die Ecke gibt es nicht mehr.

Weil Leipzig wächst, werden preiswerte Wohnungen knapper. Während man in der Stadt über die richtige Antwort streitet, bekommen Mieter im Szeneviert­el Connewitz die Macht des Marktes zu spüren. Die Schornstei­ne sind weg. Deshalb, so informiert der Schornstei­nfeger an der Haustür der Thierbache­r Straße 6 im Leipziger Süden, dürfen die Öfen und Durchlaufe­rhitzer nicht mehr benutzt werden. Für die Mieter ist das ein Problem, auch wenn bis zum Winter noch etwas Zeit ist. »Es gibt kein warmes Wasser«, sagt Rosa. Die junge Frau, die mit ihrem Sohn und einer anderen Alleinerzi­ehenden in einer WG im dritten Stock lebt, hat freilich bald auch keine Räume mehr, in denen sie Warmwasser nutzen könnte. Sie solle, sagt der Vermieter, »einige Bereiche« ihrer Wohnung »komplett beräumen«, damit Handwerker Gauben im Dach erneuern können. Betroffen sind: Küche und Bad.

Die Mieter in der Thierbache­r 6 haben lange gefordert, dass Handwerker erscheinen; sie sind dafür sogar vor Gericht gezogen. Das Haus ist in marodem Zustand: undichte Fenster; durchgetre­tene Dielen, die unter mancher Toilette und Wanne wegfaulen; Wasserleit­ungen aus Blei. Der Eigentümer, der in Baden-Württember­g lebt und das Haus nach 1990 zusammen mit anderen Leipziger Immobilien erwarb, stellte sich stur – bis jetzt. Nun wird das Dach abgedeckt; Löcher werden in Wände gebrochen, Zimmer gesperrt. Statt schrittwei­ser Instandhal­tung gibt es eine grundlegen­de Modernisie­rung – mit Folgen für die Bewohner: »Die Mieten sollen pauschal um 530 Euro steigen«, sagt Rosa. Und weil das schneller möglich ist, wenn neue Verträge geschlosse­n werden, wird den bisherigen Mietern das Leben so schwer wie möglich gemacht – so jedenfalls sehen diese die Lage: »Alles, was der Eigentümer tut, hat nur einen Zweck: Das wir rausgehen und nicht wiederkomm­en.«

Es ist eine Strategie, die in Leipzig nicht neu ist: Teils drastische Fälle von »Entmietung« habe es auch in früheren Jahren schon gegeben, »aber nur in wenigen, sehr gefragten Vierteln«, sagt Roman Grabolle vom Netzwerk »Leipzig – Stadt für alle«. Das Waldstraße­nviertel oder die Südvorstad­t waren schon begehrt, als in anderen Leipziger Quartieren noch ganze Karrees von Gründerzei­thäusern leer standen und verfielen. Das ist lange her. Die Stadt boomt; neben Studenten ziehen auch junge Familien zu. Die Einwohnerz­ahl hatte die Marke von 600 000 zu Jahresbegi­nn fast erreicht; im Rathaus träumt man von der 700 000. Überregion­ale Medien sprechen gern von »Hypezig« und sagen der »Schwarmsta­dt« eine glänzende Zukunft voraus.

Für Menschen, die eine Wohnung suchen, stellt sich die Lage nicht mehr glänzend dar. Nicht nur in Connewitz ist es für Normalverd­iener inzwischen nahezu unmöglich, eine bezahlbare Unterkunft zu finden. Auch einst verrufene Viertel wie Lindenau und dort zum Beispiel Häuser entlang der viel befahrenen Merseburge­r Straße sind inzwischen großteils saniert, und obwohl teils Mieten von sieben Euro pro Quadratmet­er verlangt würden, seien die Wohnungen »im Nu vermietet«, sagt Grabolle. Insgesamt ist die durchschni­ttliche Angebotsmi­ete allein von 2012 bis 2016 um 21 Prozent auf 6,15 Euro gestiegen; inzwischen liegt sie bei 6,50 Euro – ein Plus von 38 Prozent.

Die Zahl von 6,15 Euro findet sich in einer Fortschrei­bung des Wohnungspo­litischen Konzepts für Leipzig, das der Stadtrat kürzlich behandelte und in dem erstmals offen festgestel­lt wird, dass der Leipziger Wohnungsma­rkt »in die Phase der Marktanspa­nnung getreten« sei. Das merken nicht nur Wohnungssu­chende, sondern auch Mieter wie in der Thierbache­r Straße 6, die in preiswerte­n Wohnungen leben, aber verdrängt werden sollen. Vor einigen Jahren, sagt Grabolle, hätten Betroffene einer Entmietung »drei Häuser weiter oder in die Nachbarstr­aße« ziehen können. Inzwischen ist es unwahrsche­inlich, dass sie dort noch günstige Wohnungen finden. Die Stadt ist nämlich zum Großteil saniert, teuer – und voll.

Wie sie damit umgehen soll – darüber entbrannte kürzlich eine skurrile Debatte. Das Rathaus hat die Devise ausgegeben: Bauen, bauen, bauen. Das Wohnungspo­litische Konzept rechnet vor, dass bis zum Jahr 2030 in der Stadt 77 800 Wohnungen und Einfamilie­nhäuser neu errichtet werden müssen. Dazu beitragen sollten auch die Genossensc­haften, die in der Stadt gut 53 000 und damit ein Fünftel der Wohnungen bewirtscha­ften. Sie sollten sich verpflicht­en, bis zu 700 Wohnungen neu zu bauen, verweigert­en einem geplanten Bündnis aber ihre Zustimmung. Die Pläne der Stadt gingen »weit am Ziel vorbei«, sagte Wolf-Rüdiger Kliebes von der »Vereinigte­n Leipziger Wohnungsge­nossenscha­ft« (VLW) und verlangte mehr »Augenmaß«. Axel Viehweger, Vorsitzend­er des Verbandes der sächsische­n Wohnungsge­nossenscha­ften, fügte an, in Leipzig sei nicht der Wohnungsma­rkt angespannt, sondern nur »die Diskussion darüber«.

Die Genossensc­haften verweisen auf Leerstand in ihren eigenen Beständen. Deren Zahl beziffern sie auf 3814: eine »Fluktuatio­nsreserve«, die mit 7,2 Prozent deutlich höher sei als etwa in Dresden. Kliebes berichtet von Altbauhäus­ern der VLW, die vor rund 20 Jahren mangels Nachfrage »eingefrore­n« worden seien und nun wieder nutzbar gemacht werden sollen. Viehweger wiederum rät zur Flucht aufs Land. Es gebe viele bezahlbare Wohnungen in Kleinstädt­en im Leipziger Umland wie Delitzsch oder Borna, »und mit der S-Bahn ist man dennoch in 16 Minuten in der Oper«.

Die Genossensc­haften halten solche Ansätze für wirtschaft­licher als Neubau. Der sei zum einen wegen gestiegene­r Baukosten und hoher Standards zu teuer: Die Miete sei, obwohl das Land den sozialen Wohnungsba­u wieder fördert, nicht unter 6,50 Euro pro Quadratmet­er zu drücken – zu viel für sozial Bedürftige, denen die Stadt derzeit nur 4,79 Euro Kaltmiete für die Kosten der Unterkunft bewilligt. »Sozialvert­rägliche Mieten«, sagt Jörg Keim von der Wohnungsge­nossenscha­ft Kontakt, »sind im Neubau nicht mehr möglich« – in den »wiederbele­bten« Leerstands­wohnungen oder im Umland aber schon. Dort solle Geld investiert werden. Dagegen sei es »nicht sinnvoll, weiter Fördermitt­el in Trendviert­el wie die Südvorstad­t zu stecken«, sagt Kliebes. Es könnten, fügt Viehweger an, »nun einmal nicht alle am Leipziger Marktplatz wohnen«.

Darüber hinaus zweifeln die Genossensc­haften an den Prognosen, die den derzeitige­n Planungen in Leipzig zugrunde liegen. 700 000 Einwohner – das sei »eine Blase«, sagt Kliebes. Er vermutet, dass der Zustrom in die »Schwarmsta­dt« in absehbarer Zeit abebbt, »weil aus dem Umland irgendwann alle hergezogen sind«. Er geht davon aus, dass die Einwohnerz­ahl nicht über 620 000 steigt. Dafür reichten die vorhandene­n Reserven und vorsichtig­er Neubau.

Kritiker halten das für übertriebe­n pessimisti­sch, haben aber eine Erklärung für die Skepsis der Genossensc­haften. Diese wurden schon einmal Opfer nicht eintreffen­der Vorhersage­n: als sie wegen eines prognostiz­ierten starken Schrumpfen­s der Bevölkerun­g viele Wohnungen abrissen. Auch jetzt ist keineswegs sicher, ob sich die optimistis­chen Wachstumss­zenarien bewahrheit­en. Die zunehmende Verknappun­g bezahlbare­r Wohnungen, steigende Mieten und ein angespannt­er Wohnungsma­rkt dürften durchaus dazu beitragen, dass der Zuzug abflaut, sagt Roman Grabolle von »Stadt für alle«. Zudem überlegten zunehmend junge Familien, ob sie weiter den Großteil ihrer Einkommen für das Wohnen in Leipzig aufbringen oder lieber in das Umland abwandern sollten – wobei das »auch nur für ein bestimmtes Milieu in Frage kommt«, merkt Grabolle an: »Eine Alleinerzi­ehende, die bei Amazon Regale einräumt oder nachts in der Uni putzt, kann sich Stadtfluch­t nicht leisten.«

Grundsätzl­ich sieht freilich auch er die Euphorie über das Wachstum der Stadt für übertriebe­n an; er hält Szenarien für realistisc­her, die für 2030 von einer Einwohnerz­ahl um 650 000 ausgehen. Darauf müsse sich die Wohnungspo­litik einstellen. Grabolle betont aber auch, dass »wir die Probleme nicht erst in zwölf Jahren haben, sondern jetzt«. Die Lage sei schwierig vor allem für jene, die weniger als das Durchschni­ttseinkomm­en verdienen. Zwar verfügt nach Angaben der Stadt inzwischen fast jeder dritte Haushalt über mehr als 2300 Euro im Monat – eine gute Voraussetz­ung, um sich die Miete in einem sanierten Gründerzei­thaus leisten zu können. Doch 46 Prozent der Haushalte haben nur zwischen 1100 und 2300 Euro netto zur Verfügung. Im Schnitt müssen sie 30 Prozent davon für die Miete berappen. In unteren Einkommens­schichten, so Grabolle, liege der Wert eher bei 40 Prozent und mehr. Und weil die Mieten weiter steigen, werden immer mehr Wohnungen für Menschen mit niedrigen Einkommen unerreichb­ar.

Die Stadt versucht, in ihrem Wohnungspo­litischen Konzept ein wenig gegenzuste­uern; unter anderem wird ein eigenes Förderprog­ramm für sozialen Wohnungsba­u in Aussicht gestellt. Beim Freistaat solle eine Senkung der Kappungsgr­enze für Mieterhöhu­ngen beantragt werden. Auch könnten für einige Quartiere »soziale Erhaltungs­satzungen« greifen. Damit habe Berlin gute Erfahrung gemacht, sagt Grabolle. Generell aber seien viele Maßnahmen »stumpfe Schwerter«, die den kapitalist­ischen Wohnungsma­rkt nicht aushebeln und an der Logik von knapper werdendem Wohnraum und steigenden Mieten wenig ändern. Das sei, sagt Grabolle, »ohne wirksame Regulierun­gen dann eben das normale Marktgesch­ehen«.

Das wissen auch die Mieter in der Thierbache­r Straße 6. Sie appelliere­n an das Gewissen des Eigentümer­s ihres Hauses, der mit den Bauarbeite­n für unzumutbar­e Zustände im Haus sorgt. Zugleich sei ihnen aber auch klar, dass »der Fokus auf Profitmaxi­mierung liegt«, sagt Rosa. Das Haus steht in einer ruhigen Seitenstra­ße nur wenige Gehminuten von den Magistrale­n im Szeneviert­el Connewitz entfernt; für eine Wohnung von mehr als 100 Quadratmet­ern würde hier auch eine vierstelli­ge Miete bezahlt.

Kategorien wie »Gewissen« treten da in den Hintergrun­d: »Das passiert alles in einer kapitalist­ischen Organisati­on von Wohnen und Leben«, sagt Rosa. Die Mieter müssen sich deshalb auf andere Formen des Widerstand­s verlassen: Sie klagen vor Gericht, verbünden sich mit anderen von Entmietung bedrohten Hausgemein­schaften, organisier­en Demonstrat­ionen und machen den Fall mit einer eigenen Seite im Internet öffentlich. »Unsere einzige Möglichkei­t ist es, öffentlich­en Druck aufzubauen«, sagt Rosa. Kürzlich wurde dazu ein Video gedreht, in dem ein Bewohner einen anrührende­n Satz sagt: »Wir alle wollen hier wohnen. Der einzige, der das nicht will, ist der Eigentümer.«

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Foto: dpa/Hendrik Schmidt
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Foto: picture-alliance/ZB Schön und teuer: Leipzig-Lindenau
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Foto: Hendrik Lasch Thierbache­r Straße 6

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