Kein Opfer, weil nicht angefeindet
In Kriegszeiten zur »Arisierung« geraubte Kinder haben bis heute kein Recht auf Entschädigung
Tausende Kinder wurden von den Nazis bis 1945 nach Deutschland verschleppt. Diese Opfer hat die Bundesrepublik bei ihren Regeln zur Entschädigung vergessen. Sie warten vergeblich auf Anerkennung. Hermann Lüdeking kann sich noch gut erinnern, wie ein deutsches Ehepaar 1942 in die »Lebensborn«-Einrichtung in Sachsen kam und ihn zur Adoption aussuchte. Sechs Jahre alt war er, man hatte ihn aus Polen verschleppt. In den amtlichen Urkunden der »geraubten Kinder« wurden in der Regel Geburtsort und teilweise auch -datum gefälscht.
Die »Zwangsarisierung« von Kindern ist ein weitgehend unbekanntes Kapitel der Nazidiktatur. Lüdeking, inzwischen 83 Jahre alt, hofft bis heute vergeblich auf eine wenigstens symbolische Entschädigung. Seine Klage vor dem Kölner Verwaltungsgericht wurde im vergangenen Mo- nat abgelehnt. Es bestehe kein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch.
Lüdeking wollte damit eine ablehnende Entscheidung der Generalzolldirektion in Köln als zuständige Abteilung des Bundesfinanzministeriums aufheben. Hier hatte er eine einmalige Beihilfe nach den Richtlinien der Bundesregierung über Härteleistungen an Opfer von NS-Unrechtsmaßnahmen im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes beantragt. Danach können Leistungen erbracht werden, wenn eine Person wegen ihres gesellschaftlichen oder persönlichen Verhaltens oder wegen besonderer persönlicher Eigenschaften (z.B. geistige Behinderungen) vom NS-Regime angefeindet wurde.
»Herr Lüdeking wurde durch die zwangsweise ›Germanisierung‹ zwar zweifelsfrei Unrecht zugefügt, aber er wurde durch das NS-Regime nicht ›angefeindet‹. Durch die Aufnahme im Lebensborn und die darauffolgende Adoption war er gerade nicht den Un- rechtsmaßnahmen ausgesetzt, die die polnische Bevölkerung während der Besatzung durch das NS-Regime erleiden musste.« So begründete die Generalzolldirektion damals ihre Ablehnung.
Bittere Pointe: Diese Beihilfen können ohnehin nur Deutsche – Homosexuelle, Euthanasieopfer oder Zwangssterilisierte – erhalten, die auch in Deutschland leben. Lüdeking ist (Zwangs-)Deutscher und lebt in Deutschland. Als Entschädigung sind maximal knapp 2000 Euro vorgesehen, doch auf das Geld kommt es ihm nicht an. »Wichtiger ist mir, dass das Verbrechen anerkannt wird.«
Auf die Härterichtlinien berief sich nun auch das Kölner Gericht. Im Wesentlichen verwies es darauf, dass »die Behörde ihre Verwaltungspraxis gleichmäßig ausgeübt« und in keinem Falle Leistungen an »geraubte Kinder« erbracht habe. Zwar sei dem Kläger durch die »zwangsweise Germanisierung« zweifellos »ganz erhebliches Unrecht angetan« worden. Über die Feststellung einer Ungleichbehandlung hinaus sei es dem Gericht aber aus Rechtsgründen verwehrt, den Anwendungsbereich der Richtlinie zu Gunsten des Klägers zu erweitern.
Ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte bleibt damit weiter ungesühnt. Als hätte es 1948 nicht die Nürnberger Prozesse gegeben, bei denen die Verschleppung der Kinder aus Polen, der Tschechoslowakei oder Norwegen als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wurde. Zwischen 50 000 und 200 000 – so Schätzungen – blonde und blauäugige Kinder waren auf Anordnung von SS-Führer Heinrich Himmler geraubt worden, um »deutsches Blut aufzufrischen«.
Jetzt überlegt Lüdeking, beim Oberverwaltungsgericht Münster Berufung einzulegen – nicht zuletzt eine Frage des Geldes. Unterstützt wird er vom Freiburger Verein »Geraubte Kinder – vergessene Opfer«. Vielleicht nimmt sich ja doch noch die Politik dieses Unrechts an. Bisher ist davon jedoch nichts zu sehen, obwohl in der Vergangenheit zahlreiche Bundestagsabgeordnete angeschrieben wurden. Ein Antrag auf Unterstützung aus einem Härtefallfonds für NSOpfer des Landes Nordrhein-Westfalen – das einzige Bundesland mit einem solchen Fonds – wurde abgelehnt. Begründung: Lüdeking lebt erst seit 22 Jahren in NRW, es müssten 25 sein. Es geht um einen Betrag von 3600 Euro. (Az.: 8 K 2202/17)
Zwischen 50 000 und 200 000 blonde und blauäugige Kinder waren auf Anordnung von SS-Führer Heinrich Himmler geraubt worden, um »deutsches Blut aufzufrischen«.