Saudi-Arabien geht gegen Schiiten vor
Vor einem Sondergericht in Damman wird die Todesstrafe gegen sechs Menschenrechtler gefordert
Menschenrechtler warnen seit Jahren vor einer missbräuchlichen Anwendung einer königlichen Anweisung zur Terrorabwehr. Bekannt wurde im Westen der Fall einer saudischen Gruppe schiitischer Menschrechtler, denen die Todesstrafe droht, nachdem Amnesty In- ternational auf das Schicksal der 29jährigen Israa al Ghomgham hingewiesen hatte – dementsprechend konzentriert sich auch derzeit das öffentliche Interesse vor allem auf sie.
Doch mit al Ghomgham stehen derzeit fünf weitere Personen, darunter auch ihr Ehemann Mussa al Haschem, vor dem »Sonderkriminalgericht« in Dammam, einer Hafenstadt zwischen Bahrain und Kuwait. Alle sechs sind Schiiten, eine Minderheit, die sich im sunnitischen Saudi-Arabien im Alltag einer Vielzahl von Diskriminierungen ausgesetzt sieht, und überdies auch immer wieder in die Mühlen des Konflikts des erzkonservativen Königreichs mit Iran gerät. Am 6. und 8. Dezember 2015 wurden diese sechs also festgenommen und sitzen seitdem in Haft.
Aus Gerichtsunterlagen geht hervor, dass den Angeklagten vorgeworfen wird, sich an Protesten in der Provinz asch Scharqiyya, deren Hauptstadt Dammam ist, beteiligt und Bilder von den Demonstrationen in sozialen Netzwerken veröffentlicht zu haben. Zudem habe man »Aufrührern« moralische Unterstützung geleistet, indem die Angeklagten an Beerdigungen von durch die Polizei getöteten Demonstranten teilgenommen haben. Al Ghomgham wird zudem »Fälschung« vorgeworfen: Sie habe in ihrem Facebook-Profil das Bild einer anderen Frau als ihr eigenes ausgegeben. Außerdem hätten die Angeklagten mit der Veröffentlichung der Protestbilder Paragraf 6 des Gesetzes zur Bekämpfung der Onlinekriminalität verletzt.
Für fünf der sechs Angeklagten hat die Staatsanwaltschaft nun die Todesstrafe gefordert. Die Grundlage dafür bildet königliche die Anwei- sung 44/A. Dabei handelt es sich um eine Verordnung, die von der saudischen Regierung nach der Veröffentlichung am 3. Februar 2015 als »unerlässlicher Schritt zur nachhaltigen Bekämpfung des Terrors im In- und Ausland« bezeichnet wurde, so ein Regierungssprecher damals.
Eine Reihe von Gruppen, darunter der »Islamische Staat«, al-Qaida, die Huthi-Milizen und die Hisbollah, werden darin als Terrororganisation eingestuft, und Kontakt zu und/oder Unterstützung dieser Gruppen unter Strafe gestellt.
Doch neben diesen Regelungen definiert die Verordnung auch eine ganze Reihe von anderen Handlungen als Terrorismus: Atheismus gehört laut Verordnung 44/A ebenso dazu wie Handlungen, die »die Einheit und Stabilität des Königreichs schädigen« oder zu einer »ablehnenden Haltung« von ausländischen Regierungen oder internationalen Organisationen Saudi-Arabien gegenüber führen.
Schon seit Jahren hatten saudische Aktivistinnen und Aktivisten, ganz gleich für welches Anliegen sie eintreten, aber auch arabische Nachrichtensender, immer wieder die Befürchtung geäußert, dass 44/A irgendwann auch tatsächlich angewandt werden würde.
Nun ist dieser Fall also eingetreten, und das in einer Zeit, in der sich vor allem der saudische Kronprinz und De-facto-Machthaber Mohammad bin Salman nach außen hin als Reformer darstellt: Seit Juni dürfen Frauen Auto fahren, auch Konzertveranstaltungen und Filmvorführungen wurden erstmals erlaubt. Doch gleichzeitig wurden Frauenrechtlerinnen festgenommen, und diejenigen, die sich weiterhin auf freiem Fuß befinden, machen sich nun Sorgen, dass auch die Festgenommenen bald die Wucht des 44/A treffen könnte. Bislang sah man die Festnahmen der vergangenen Monate vor allem als Versuch des Kronprinzen, Reformen für sich zu beanspruchen und gleichzeitig in der Öffentlichkeit Härte zu zeigen. Denn die saudische Öffentlichkeit ist extrem konservativ, viele Saudis lehnen die wenigen neuen Frauenrechte ab und halten die Aktivistinnen für Störenfriede.
Dass man nun 44/A auf schiitische Aktivisten anwendet, dürfte indes vor allem am Konflikt mit Iran liegen: Vor zwei Wochen warf Innenminister Abdulaziz bin Saud bin Nayef Teheran öffentlich vor, Proteste und Unruhen von saudischen Schiiten anzustacheln. Die iranische Regierung, wo es an der Grenze zu Pakistan eine recht große sunnitische Minderheit gibt, äußert derweil den gleichen Vorwurf in umgekehrte Richtung.
Laut königlicher Anweisung 44/A gehört Atheismus ebenso zu Terrorismus wie Handlungen, die zu einer »ablehnenden Haltung« von ausländischen Regierungen oder internationalen Organisationen gegenüber Saudi-Arabien führen.