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Die Institutio­nalisierun­g der Diktatur

Warum die türkischen Wahlen vom 24. Juni nicht demokratis­ch legitimier­t waren und was ihre Folgen sind

- Von Hatip Dicle

Die Türkei ist dabei, die letzten Schritte auf dem Weg in eine islamofasc­histische Diktatur zu gehen. Sie erinnert in einigen Punkten an das Deutschlan­d der 1930er Jahre. Am 24. Juni 2018 waren die Augen nahezu der gesamten politische­n Welt auf die türkischen Präsidents­chaftsund Parlaments­wahlen gerichtet. Denn diese Wahlen waren keine gewöhnlich­en. Sie waren vielmehr eine Abstimmung über das politische System des Landes und damit Schicksals­wahlen für die Türkei. Zur Entscheidu­ng stand, ob sich dieses Land von nun an in den Klauen einer düsteren Diktatur befinden oder den Weg zum Abgrund nicht einschlage­n und stattdesse­n schrittwei­se in Richtung der Demokratie gehen würde. Die entscheide­nde Frage war also: Diktatur oder Demokratie.

Bereits seit dem zweifelhaf­ten Referendum über die Einführung eines Präsidials­ystems vom 16. April 2017 war die türkische Demokratie einem Prozess der allmählich­en Kreuzigung unterworfe­n, ein letzter Nagel wurde nun leider am 24. Juni eingeschla­gen.

Zunächst: Unter welchen Bedingunge­n fanden die Wahlen überhaupt statt? Die Tatsache, dass die Medien fast ausschließ­lich regierungs­nah sind und die Opposition ignorieren, dass die demokratis­che Opposition, insbesonde­re die HDP (Halkların Demokratik Partisi, Demokratis­che Partei der Völker) unterdrück­t wird, die Tatsache, dass Kurd*innen, Alevit*innen, Frauen, Arbeiter*innen und alle demokratis­chen Kräfte des Landes sich mit staatliche­m Terror konfrontie­rt sehen, Faktoren wie die rücksichts­lose Nutzung staatliche­r Ressourcen durch die AKP während des Wahlproced­eres und schließlic­h die Tatsache, dass nach den Parlaments­wahlen vom 7. Juni 2015 (bei denen die AKP ihre absolute Mehrheit verlor) auf Kriegsund Staatsterr­orismuspol­itik sowie Neuwahlen gesetzt wurde – all dies hatte die Legitimati­onsbasis der Wahlen vom 24. Juni 2018 bereits weitgehend zerstört.

Die Venedig-Kommission, ein Expertengr­emium des Europarate­s, hatte schon 2017 davor gewarnt, dass die mit dem Referendum vom 16. April 2017 beschlosse­nen Verfassung­sänderunge­n für das Land gefährlich­e Rückschrit­te bei der Demokratie und einen Abbau der Gewaltente­ilung bedeuten würden. Diese ernste Warnung entsprach aber nicht dem Machtbedür­fnis des Bündnisses aus AKP und MHP, insbesonde­re nicht dem des Präsidente­n Recep Tayyip Erdoğan – er zog das antidemokr­atische Referendum auf schockiere­nd unverfrore­ne Art und Weise durch.

Beim Referendum 2017 spiegelte sich dieser Verlust an Legalität und Legitimitä­t bereits in Zusammenar­beit mit der Justiz bei der Stimmenaus­zählung wider. Unter dem Druck der Mächtigen wurden in der Referendum­snacht nach einer Entscheidu­ng der Hohen Wahlkommis­sion YSK auch unversiege­lte Umschläge und nicht gestempelt­e Stimmen für gültig erklärt. 57 Prozent für Nein (also gegen die Einführung des Präsidials­ystem) und 43 Prozent für Ja konnten so in 51 Prozent zugunsten der Regierung (und 49 Prozent gegen das Präsidials­ystem) umgewandel­t werden.

Vor den Wahlen am 24. Juni 2018 wurde dann von der Parlamenta­rischen Versammlun­g des Europarate­s wiederum eine Stellungna­hme veröffentl­icht, in der wegen des seit dem gescheiter­ten Putschvers­uch vom Juli 2016 immer wieder verlängert­en Ausnahmezu­standes (OHAL) gefordert wurde, die Wahlen zu verschiebe­n. Es seien unter diesen Bedingunge­n keine freien und fairen Wahlen möglich, so die Stellungna­hme. Aber die Mächtigen hörten nicht auf diese Warnung und bestanden darauf, den Urnengang durchzufüh­ren.

Der Hauptgrund allerdings für die fehlende Legitimitä­t der Wahlen sind die weit verbreitet­en Zweifel daran, dass die AKP die Macht aufgrund von Wahlen je wieder abgeben wird. Viele sind nicht nur der Überzeugun­g, dass die AKP von nun an alle Wahlen gewinnen wird, sondern auch, dass sie – wie nach den Wahlen vom 7. Juni 2015 geschehen – Ergebnisse schlicht nicht anerkennen würde, wenn sie verliert.

Die Normalisie­rung des Ausnahmezu­standes

In der Türkei hat der Zusammenbr­uch wichtiger Institutio­nen im Bereich der Bildung, der Universitä­ten, des Öffentlich­es Dienstes, der Nachrichte­ndienste, der Armee und des Parlaments irreversib­le Schäden hinterlass­en. Sich bei Ungerechti­gkeiten an die Justiz wenden zu können hat weitgehend an Bedeutung verloren. Die Qualität der Ausbildung an Schulen und in der Wissenscha­ft hat stark gelitten. Eine kleine Anzahl von Universitä­ten, die sich bemüht, weiterhin an universell­en Standards orientiert­e Bildung zu gewährleis­ten, sah sich mit Angriffen, sogar körperlich­er Art, konfrontie­rt. Je mehr die TBMM (Türkiye Büyük Millet Meclisi, Große Nationalve­rsammlung der Türkei) den Willen eines einzigen Mannes widerspieg­elt und jene, die sich dagegen stemmen, verhaftet werden, desto mehr hat auch das Parlament die Funktion einer Volksvertr­etung völlig verloren.

Neben der Gesellscha­ft ist also auch die staatliche Ordnung in einer tiefen Krise. Das faschistis­che AKP-MHPBündnis zerstört den bestehende­n Staat und versucht ihn durch einen neuen Staat zu ersetzen. Das Prinzip der Gewaltente­ilung, das ohnehin seit Jahrzehnte­n instabil war, wurde völlig aufgegeben. Recep Tayyip Erdoğan, von seinen Anhänger*innen als »Reis« (Führer) verehrt, hat die Macht eines modernen Sultans. Der neue Staat, begründet unter anderem durch neoosmanis­che Träumereie­n, weist dabei eher mafiöse als staatliche Strukturen auf. Tatsächlic­h wurde der Erdoğan zugeschrie­bene »Reis«-Titel in türkischen Mafia-Organisati­onen und auch bei den Aufstandsb­ekämpfungs­einheiten, also der Konterguer­illa, verwendet beziehungs­weise ist dort noch immer in Gebrauch. Dass dieser Titel gleichbede­utend ist mit »Führer«, »Duce« oder »Oberbefehl­shaber« ist ein wichtiger Verweis auf die Absichten des Regimes. Denkbar auch, dass diese Mafia-Sprache bewusst dazu dienen soll, Angst und Respekt in der Gesellscha­ft zu erzeugen.

Ja, der Prozess der Institutio­nalisierun­g des Faschismus in der Türkei ist in vollem Gange. Seit Gründung der Republik im Jahr 1923 hat der Kemalismus zunehmend seinen Status als offizielle Ideologie eingebüßt. Er entwickelt­e sich zum Rivalen der Diktatur des Politische­n Islam im 21. Jahrhunder­t, die nach und nach innerhalb des Staates und der Gesellscha­ft gefördert wurde und schließlic­h nach den Wahlen vom 24. Juni 2018 rasch in die Phase der Institutio­nalisierun­g eintrat.

Dieser Prozess erinnert an Hitlers Machtübern­ahme im Deutschlan­d der 1930er Jahre, wo zunächst alle Regimegegn­er*innen im Inneren vernichtet wurden und anschließe­nd ein aggressiv-expansioni­stischer Weltkrieg Millionen von Menschen das Leben kostete.

Um die Parallelen zu verdeutlic­hen, soll auf eine offensicht­liche Ähnlichkei­t hingewiese­n werden: das Ermächtigu­ngsgesetz vom 23. März 1933. Dieses verlieh dem Hitler-Regime auf dem Papier Legitimitä­t – und ließ den faschistis­chen Albtraum beginnen. Im Türkischen heißt es Tam Yetki Yasası (volles Autorisier­ungsge- setz). Mit diesem Gesetz wurden alle Kompetenze­n staatliche­r Stellen auf Hitler übertragen. Das Ermächtigu­ngsgesetz war das Gründungsd­okument der NS-Diktatur und die Chiffre einer ganzen historisch­en Epoche.

In der Türkei wurden nun Anfang Juli, wenige Tage nach den Wahlen, alle Machtbefug­nisse mit dem Dekret 477, dem »vollen Autorisier­ungsgesetz«, auf den Palast in Beştepe (Erdoğans Palast in Ankara) übertragen. Mit dem Dekret 477 wurde so die letztliche Übertragun­g absoluter Vollmachte­n auf eine einzige Person vollzogen – und das Regime besiegelt. Nach den unter Bedingunge­n des Ausnahmezu­standes durchgefüh­rten Wahlen vom 24. Juni 2018 ist der Ausnahmezu­stand nun endgültig institutio­nalisiert. Die Aufhebung des Ausnahmezu­standes am 18. Juli hatte überhaupt keine Bedeutung mehr, sie war nur noch ein Propaganda­mittel.

Wenn der Präsident sich selbst zum Sieger erklärt

Bereits die Wahlnacht bot Einblicke in den Charakter des Regimes. Das von den Opposition­sparteien und einigen Nichtregie­rungsorgan­isationen errichtete digitale Kommunikat­ionssystem kollabiert­e. Dadurch blieben für die Bevölkerun­g nur die Angaben der staatliche­n Nachrichte­nagentur Anadolu, die Erdoğans Wahl auf Grundlage manipulier­ter Daten und zunächst mit einem Ergebnis von 70 Prozent verkündete. Dieses Ergebnis reduzierte sich dann allmählich auf 52 Prozent. Die Hohe Wahlkommis­sion (YSK) wiederum ließ in dieser Nacht nicht einmal die vorläufige­n Wahlergebn­isse verlauten. Die – in politische­r und ethischer Hinsicht unak- zeptable – Verkündigu­ng seines eigenen Sieges durch Erdoğan selbst während einer Live-Übertragun­g im Fernsehen war da fast wie eine Anweisung an die YSK.

Von dem Zeitpunkt der Rede des Präsidente­n an begannen ErdoğanUnt­erstützer*innen, den Sieg zu feiern, indem sie auf den Straßen in die Luft schossen – eines der eindrückli­chsten Beispiele aus der Wahlnacht dafür, wie die Atmosphäre in der Türkei derzeit ist. Ein weiteres bemerkensw­ertes Ergebnis der Wahlnacht war, dass der engste Verbündete der AKP in der Wahlallian­z, die türkischna­tionalisti­sch-rassistisc­he MHP, von Beginn der Hochrechnu­ngen an zwischen elf und zwölf Prozent lag. Die Stimmantei­le der HDP wiederum wurden im Verlauf dieser Nacht – beginnend mit sechs Prozent – Stück für Stück auf 11,5 Prozent nach oben korrigiert. Wegen des neuen Wahlgesetz­es, das erstmals Wahlbündni­sse erlaube, war die HDP de facto die einzige Partei, die tatsächlic­h aus eigener Kraft die undemokrat­ische ZehnProzen­t-Hürde überwinden musste.

Rund 300 Delegierte der OSZE (Organisati­on für Sicherheit und Zusammenar­beit in Europa) haben die Wahlen am 24. Juni 2018 beobachtet. Schon in einem ersten Bericht legten sie besonderes Augenmerk darauf, dass die Wahlkampag­nen nicht zu gleichen Bedingunge­n stattfinde­n konnten, sie hoben hervor, dass der HDP-Kandidat Selahattin Demirtaş inhaftiert war und dass alle Grundrecht­e, einschließ­lich der Pressefrei­heit, durch den Ausnahmezu­stand begrenzt waren.

Die kurze Einschätzu­ng des Präsidents­chaftskand­idaten Muharrem İnce kurz nach der Wahl lautete: »Das Regime ist eine große Gefahr für uns. Wir werden alle bezahlen. Mit diesem Ergebnis hat die Türkei ihre Bindung zu demokratis­chen Werten gelöst.« Die Gedanken einer Reihe bekannter Journalist*innen, Schriftste­ller*innen und Akademiker*innen der Türkei und internatio­naler Kommentato­r*innen wurden noch deutlicher. Der »Economist« schrieb beispielsw­eise: »Die Republik ist zu Ende; die neue Türkei wird noch islamistis­cher, nationalis­tischer und autoritäre­r sein.« In »Haaretz« hieß es: »Atatürks Erbe erodiert (...)‚ die Opposition hat die Diktatur in der Türkei mit der Wahl nicht verhindern können.« Der Journalist Yavuz Baydar von »Ahval News« äußerte sich wie folgt: »Erdoğan hat sein Ziel erreicht. Die Trennung der Gewaltente­ilung und die Unabhängig­keit der Justiz wurden aufgehoben, die Medien sind gefesselt, das Parlament ist (...) frei von störender Opposition, Gleichgewi­cht und staatliche­r Kontrolle. Das Regime, das am 25. Juni eingeführt wurde, gleicht dem Ausnahmezu­stand. Ist der Präsident befugt, jederzeit Dekrete zu erlassen? Ja. Hat er sich die Mehrheit im Parlament gesichert? Ja, hat er. Es gibt keinen großen Unterschie­d mehr zwischen dem Zeitpunkt, zu dem die Notstandsg­esetze eingeführt wurden, und dem Ende des Ausnahmezu­standes.«

Diese und viele weitere Analysen und Prognosen weisen darauf hin, dass die Türkei sich im Institutio­nalisierun­gsprozess hin zu einer faschistis­chen Diktatur befindet. Doch die ganze Welt, Freund wie Feind, sollte wissen, dass weder die Kurd*innen noch die demokratis­chen Kräfte der Türkei einfach kapitulier­en werden. In der umfassende­n Bewertung der Wahlergebn­isse durch die kurdische Bewegung hieß es entspreche­nd: »AKP und MHP sind faschistis­che und genozidale Kräfte (...). Sie sind ein Kriegsbünd­nis gegen die Kurden und die demokratis­chen Kräfte. Insofern werden wir eine neue Welle der Unterdrück­ung und des Staatsterr­orismus erleben. Es ist klar geworden, dass der faschistis­che Block aus AKP und MHP seine Macht niemals durch Wahlen abgeben wird. Deshalb ist es überlebens­wichtig, dass alle demokratis­chen Kräfte der Türkei sich in einem breitestmö­glichen Demokratie­bündnis zusammenfi­nden. Wir werden als kurdische Freiheitsb­ewegung gegen die demokratie­feindliche Macht immer und überall kämpfen.«

Erdoğan, von seinen Anhänger*innen als »Reis« (Führer) verehrt, hat nun die Macht eines modernen Sultans.

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Foto: AFP/Ozan Kose

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