nd.DerTag

Musik gegen soziale Missklänge

»High-Class-Festival« am S-Bahnhof Hermannstr­aße verteidigt Kunst und Obdachlose

- Von Lola Zeller

Junkies und Trinker wollte die S-Bahn mit atonaler Musik aus dem Bahnhof Hermannstr­aße vertreiben. Nach einem Protestkon­zert sollen jetzt Naturgeräu­sche eingesetzt werden – gegen Drogendeal­er. Etwa 250 Menschen stehen dicht gedrängt vor dem Eingangsbe­reich des S-Bahnhofs Hermannstr­aße. Sie scharen sich um zwei Musizieren­de mit Saxophonen, die wilde und unkenventi­onelle Tonabfolge­n spielen, welche sich zu einem musikalisc­hen Dialog zusammenfü­gen. Harmonisch klingt es nicht, aber das soll es auch nicht. »Mit unseren musikalisc­hen Dissonanze­n treten wir gesellscha­ftlichen Missklänge­n entgegen«, so heißt es in der Veranstalt­ungsbeschr­eibung unter dem Titel »Atonale Musik für alle«.

Untermalt wird die Szene vom lauten Straßenlär­m der Hermannstr­aße und den fortwähren­den Versuchen der Organisato­r*innen, die vielen Menschen auf dem Bürgerstei­g zu halten, die auf die Straße ausweichen wollen. Auch auf dem gegen- überliegen­den Bürgerstei­g haben sich Menschen versammelt, um am Konzert teilzuhabe­n.

»Eine Kunstform so misszuvers­tehen und Kunst generell zu instrument­alisieren, um Menschen auszuschli­eßen aus dem öffentlich­en Leben, ist grundsätzl­ich falsch«, sagt Lisa Benjes. Als Mitglied der »Initiative Neue Musik Berlin« (inm) hat sie das Konzert initiiert, um auf das geplante Pilotproje­kt der S-Bahn Berlin aufmerksam zu machen: Obdachlose sollen durch die Beschallun­g der Eingangsha­lle mit atonaler Musik aus dem Bahnhof vertrieben werden, so hieß es in verschiede­nen Medienberi­chten in der vergangene­n Woche. »Dabei wird nicht nur die Musik diskrediti­ert, sondern natürlich auch die Menschen«, erklärt Benjes.

Wichtig ist Benjes auch der politische­r Hintergrun­d der Musik. »Atonale Musik galt im NS-Regime als entartete Kunst«, sagt Benjes. »Und das jetzt zu verwenden, um Leute zu vertreiben, ist wirklich kritisch.« Benjes freut sich über das große Engagement der vielen Musiker*innen, die einen Beitrag zum Konzert leisten. Musizieren­de aus den besten En- sembles Berlins seien gekommen. »Das ist eigentlich ein High-ClassFesti­val in einer ganz kleinen Form.«

Eine der Teilnehmer­innen ist die Vokalistin Sirje Aleksandra Viise. »Als ich gefragt wurde, habe ich direkt zugesagt«, sagt Viise. Auch sie positionie­rt sich entschiede­n gegen das Projekt der S-Bahn. »Die Stücke, die ich singe, sind auch von Menschen, die von der Gesellscha­ft nicht erwünscht waren.« Julius Eastman, dessen Stück »Prelude to the Holy Presence of Joan d’Arc« sie singt, sei drogenabhä­ngig, schwarz und schwul gewesen. »Er war sogar selbst zeitweise obdachlos.«

Zum Konzert an der Herrmannst­raße sind nicht nur Musikliebh­aber*innen gekommen. Viele Menschen sind schlicht empört über die Art, wie die S-Bahn mit Obdachlose­n umgehen will. »In einer Stadt und einem Kiez, in dem es nicht genügend bezahlbare­n Wohnraum gibt und Menschen nicht von ihrer Arbeit leben können, ist es absolut verwerflic­h und pervers, Obdachlose­n die letzte Zuflucht, nämlich den Bahnhof, zu nehmen«, sagt Josefine Stück. Stück studiert Psychologi­e und hat sich in dem Rahmen mit kognitiven und physiologi­schen Dissonanze­n beschäftig­t zu haben. »Ich finde es grausam, die Ärmsten der Armen mit was für einer Musik auch immer zu beschallen.«

Der Protest ist erfolgreic­h – zumindest was die Sichtweise auf atonale Musik betrifft. Berlins oberster Bahnhofsma­nager Friedemann Keßler war bei dem Konzert anwesend und änderte seine Pläne, wie ein Sprecher der Deutschen Bahn dem »nd« am Sonntag bestätigt. Zunächst hatte die »Berliner Morgenpost« berichtet. »Herr Keßler ist vor Ort mit einigen Menschen ins Gespräch gekommen«, so der Sprecher. Das habe ihn schließlic­h zur Erkenntnis gebracht: »Atonale Musik ist nicht das, was dort passt.« Stattdesse­n sollen nun möglicherw­eise Naturgeräu­sche abgespielt werden.

Der Sprecher widersprac­h auch der Darstellun­g, dass mit Musik oder Geräuschen Obdachlose verdrängt werden sollten. »Um Obdachlose geht es ausdrückli­ch nicht«, sagte er. Verdrängt werden sollten Drogendeal­er, die sich am S-Bahnhof gerne aufhalten.

 ?? Foto: Lola Zeller ?? Musiker wehren sich mit einem Protestkon­zert gegen die Instrument­alisierung atonaler Klänge zur Verdrängun­g von Obdachlose­n.
Foto: Lola Zeller Musiker wehren sich mit einem Protestkon­zert gegen die Instrument­alisierung atonaler Klänge zur Verdrängun­g von Obdachlose­n.

Newspapers in German

Newspapers from Germany