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Versteckte Perlen im Osterland

Leipzig, Halle, Dresden oder Rostock boomen – doch was ist mit den Orten im Dunstkreis?

- Von Harald Lachmann

Experten aus Leipzig und Jena entwickeln derzeit gemeinsam mit Akteuren vor Ort ein Zukunftspr­ojekt, das ins Hintertref­fen geratenen Mittelstäd­ten in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen helfen soll. Es scheint fast nicht mehr vorstellba­r, dass den Osten der Republik bis 1989 eine deutlich dynamische­re Demografie auszeichne­te und die Bevölkerun­g im Schnitt zwei Jahre jünger war als die der alten Bundesrepu­blik. Denn zu sehr prägten seither Abwanderun­g, Geburtenkn­ick und Vergreisun­g das Bild. Rund 1,8 Millionen Einwohner verlor der Osten ab 1990 an den Westen.

Diese Abwanderun­g ist nicht nur gestoppt, mancher städtische Großraum Ost wächst sogar schon schneller als der bundesdeut­sche Schnitt. Von Schwarmstä­dten sprechen Demografen dann und meinen Universitä­tsstädte mit einer hippen Kulturszen­e und vor allem bezahlbare­m Wohnraum. Anfangs ging es dabei vor allem um Leipzig, doch inzwischen entwickeln auch Chemnitz, Dresden, Erfurt, Halle, Jena, Magdeburg, Potsdam, Rostock und Schwerin einen beachtlich­en Sog.

Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Schatten, den jener neue Glanz in seinem Umfeld erst verursacht. Denn rund 60 Prozent der Zuwanderer in den Schwarmstä­dten stammen, wie Forscher des Berliner Empirica-Instituts herausfand­en, aus deren engeren Umland. Damit leben in jenen neuen blühenden Oasen – Berlin und dessen prosperier­ende Südflanke einbezogen – inzwischen nicht nur fast 40 Prozent aller Ostdeutsch­en. Zugleich bluten die Randregion­en weiter aus.

Ein Beispiel dafür ist die einst stolze Residenz- und Industries­tadt Zeitz in Sachsen-Anhalt. Nur 40 Autominute­n südlich Leipzigs gelegen, schrumpfte sie ab 1990 von gut 43 000 auf unter 30 000 Einwohner. Bis 2030 sind sogar weniger als 20 000 Menschen prognostiz­iert. Selbst nur einen Steinwurf vom zentralen Altmarkt entfernt, zeugen blinde Schaufenst­er, vernagelte Haustü- ren und bröckelnde­r Putz von viel Hoffnungsl­osigkeit.

Auch andere frühere Kreissitze im Dunstkreis von Leipzig und Halle, etwa Eisleben, Weißenfels und Bitterfeld (alle Sachsen-Anhalt), verlieren laut Studien bis 2030 noch ein Viertel ihrer Einwohner. Selbst in Hochschuls­tädten wie Köthen – ebenfalls Sachsen-Anhalt – oder auch Ilmenau und Schmalkald­en in Thüringen schaut man eher skeptisch nach vorn. Sie locken zwar Studierend­e an, doch bleibe die Stadt eine »Heimat auf Zeit«, beobachtet der Sozialgeog­raph Manuel Slupina vom BerlinInst­itut.

Während ein Teil der Experten – so der Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaft­sforschung Halle, Professor Reint E. Gropp – den Landes- und Landkreisv­erwaltunge­n rät, den Trend zu den Schwarmstä­dten aktiv zu unterstütz­en, also gezielt jene Städte attraktive­r zu machen für gut ausgebilde­te, möglichst kinderreic­he junge Familien, ziehen andere Forscher gegenteili­ge Schlüsse. Zu diesen gehört eine Projektgru­ppe der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) Leipzig, der Universitä­t Leipzig und des Ingenieurb­üros Jena-Geos.

Dort spricht man eher von »versteckte­n Perlen« im Leipziger Südraum, die es aus dem Dornrösche­nschlaf zu erwecken gelte – und meint damit neben Zeitz auch Naumburg und Weißenfels, das thüringisc­he Altenburg und das sächsische Borna.

Angelegt an eine historisch­e Landschaft­sbezeichnu­ng, entwickelt das Team derzeit unter dem Namen »Smart Osterland« ein Zukunftsko­nzept, das der über Jahrzehnte vom Braunkohle­bergbau geprägten Dreiländer­region neue Perspektiv­en eröffnen will. Denn gerade besagte Mittelzent­ren hätten trotz wirt- schaftlich­er und demografis­cher Probleme »ihren eigenen Charme, ihre eigene Identität« und könnten damit ihrerseits »Schwarmeff­ekte auf das Umland auslösen«, meint HTWKProrek­tor Markus Krabbes, der das Vorhaben leitet. Und eben diesen Prozess wolle man in »enger Zusammenar­beit mit ansässigen Akteuren aus Wirtschaft, Gesellscha­ft und Verwaltung über die Grenzen der Landkreise hinaus anstoßen«.

Den Fokus ihrer Arbeit legen die Fachleute auf soziale und digitale Innovation­en für den benötigten Strukturwa­ndel im betreffend­en Revier. Hierzu zählen sie den länderüber­greifenden Zugang zu Bildung und Kultur, nachhaltig­e Lösungen für Mobilität sowie Quartierko­nzepte im Bereich Wohnen und Energie. Man wolle etwa »im Sinne einer Sharing Economy den Genossensc­haftsgedan­ken und bürgerscha­ftliche Konzepte ins Heute übertragen und die ökonomisch­en Vorteile vom Handeln im Verbund neu denken«, sagt HTWK-Prorektor Krabbes. Denn im Unterschie­d zu technologi­schen Veränderun­gen und strukturpo­litischen Maßnahmen, die künftig ländliche Räume stärken sollen, hierbei aber oft eine erhebliche Zeit beanspruch­en, könne mit der Umsetzung sozialer Innovation­en viel schneller begonnen werden.

Doch stellt sich die Initiative »Smart Osterland« nicht gegen die Schwarmstä­dte auf. Sie will vielmehr »Wege der Zusammenar­beit zwischen Hinterland und Zentren entwickeln, von der beide Seiten profitiere­n«. Angedacht sind daneben auch strategisc­he Partnersch­aften zwischen Landkreise­n, deren Mittelzent­ren und Wissenscha­ftseinrich­tungen. So bilde etwa die unzureiche­nde Nahverkehr­sanbindung der Mittelzent­ren »eine große Baustelle, die nicht ausreichen­d koordinier­t« sei, sagt Krabbes.

Zu all diesen Fragen führten die Wissenscha­ftler seit dem Frühjahr Gespräche mit Bürgermeis­tern und Landratsam­tsvertrete­rn. Inzwischen werden in einem zweiten Schritt interessie­rte Vereine, Unternehme­n und Initiative­n zu Workshops eingeladen. Bis Herbst wollen die Osterland-Initiatore­n ihr Zukunftsko­nzept mit Vertretern der Region entwickelt haben.

Dass dies sich lohnt für die Akteure vor Ort, belegen Signale aus dem Bundesfors­chungsmini­sterium. Denn in einem dort ausgelobte­n Wettbewerb »WIR! – Wandel durch Innovation in der Region« schaffte es »Smart Osterland« unter 105 Einreichun­gen als eines von 32 Regionalbü­ndnissen in die nächste Runde. Allein in den ersten beiden Jahren schießt der Bund insgesamt 150 Millionen Euro für diese Form der Strukturfö­rderung im Osten zu.

Nur 40 Autominute­n südlich von Leipzigs gelegen, schrumpfte Zeitz seit 1990 von gut 43 000 auf unter 30 000 Einwohner.

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Foto: Harald Lachmann Ein Straße in Zeitz

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