Selfie vorm Abgrund
Notizen aus Venedig
Manchmal bekommt man im Leben Ratschläge, die der, der sie einem gibt, vermutlich für sinnvoll hält. Etwa dazu, wie man eine Kolumne schreibt. Also eine wirklich gute Kolumne. Diese höchst interessanten Vorschläge haben nur einen Haken: Sie stammen zumeist von Leuten, die selbst noch nie eine geschrieben haben. Das ist so, wie wenn ein Nichtschwimmer zum passionierten Schwimmlehrer wird.
Halt, stopp: Da bin ich schon reingerutscht ins Dilemma, das das Berufsbild des Kritikers ausmacht. Als Kritiker fühle ich mich auch gar nicht gemeint, eher als Liebhaber, mal auch als verhinderten Liebhaber, der gelegentlich nicht umhin kommt, seine Enttäuschung zu formulieren. Der Fakt bleibt dennoch: Mit Vorliebe kritisiert man etwas, das man selbst nicht ansatzweise hervorzubringen vermag. Aber muss man das? In einer arbeitsteiligen Gesellschaft kann auch nicht jeder seinen Computer selbst bauen, aber ob er gut funktioniert, findet man mit der Zeit schon heraus. Kein gutes Beispiel, oder so mangelhaft wie jedes Beispiel oder jede handgefertigte Kolumne nun mal ist.
In Venedig bekommt man einen Sinn für das Verschwimmen von Maßstäben, den Doppelcharakter aller Dinge. Schon Thomas Mann, der präzise Beobachter, sah hier etwas, das unauflösbar »halb Märchenstadt, halb Touristenfalle« bleibt. Insofern ist Venedig ein Modellfall für unsere postmodern animierte Wirklichkeit, was nur ein anderes Wort für Realitätsverlust ist. Hier kann man studieren, wie sich berechtige Empörung in vorgefertigten Erregungskurven verläuft – und so in Luft auflöst. Dass in Berlin die Friedrichwerdersche Kirche (ein Schinkelbau!) soeben durch überdimensionierte Luxusappartements in ihrer Nachbarschaft – wegen des gigantischen Profits, den diese versprechen also – in ihrer Statik irreparabel beschädigt wurde, unterliegt dieser medialen Erregungskurve. In einem halben Jahr redet kein Mensch mehr darüber, auch über Verantwortlichkeiten nicht. Venedig immerhin kultiviert seine Erregungen, lässt sie nicht ein- fach verpuffen. Vor wenigen Jahren wurden der Bürgermeister und andere hohe Würdenträger der Serenissima kurzerhand verhaftet, weil es finanzielle Unregelmäßigkeiten zu Lasten der Steuerzahler gab. Das chaotisch wirkende Italien bringt eben auch immer wieder beneidenswert mutige Staatsanwälte und Richter hervor.
Da man in Venedig zum Leidwesen der Investoren keine Hochhäuser bauen darf, ist es hier das Hochwasserschutzprojekt »Mose«, in das Milliarden Euro fließen, vermutlich auch davonfließen. Denn eigentlich glaubt niemand, der die Lagune kennt, dass solch ein Projekt eines gigantomanischen Schleusensystems auf dem Meeresgrund Hochwasser verhindern kann. Im Gegenteil, Schäden im Ökosystem sind programmiert.
»Mose« liegt in der Logik von Venedigs Geschichte, die Peter Ackroyd die »erfolgreichste Stadt der Welt« nennt, weil es ihr immer wieder gelinge, »das Artifizielle ins Extrem zu treiben«. Vielleicht zieht es darum so viele Künstler und ihres bisherigen Lebens müde Existenzen nach Venedig? Hier herrscht hinter der Maske der Geschäftigkeit blanke Melancholie, die aus den trügerischen Lichtspielen der Lagune erwächst. Heute ist sie tückisch grün, morgen strahlend durchsichtig blau und übermorgen einfach nur schlammbraun. Man weiß nichts, diese Stadt ist nun mal auf Wasser gebaut.
Die Faschisten haben Venedig gehasst, weil es sich nicht zu Gleichschritt und fadem Optimismus zwingen ließ. Marinetti, Futurist und Wegbereiter Mussolinis, hatte bereits 1910 die Kampfschrift »Contro Venezia passatista« (»Gegen ein rückwärtsgewandtes Venedig«) verfasst. Er träumte von Stahlbrücken und Autobahnen in Venedig, von U-Bahnen und großen Fabriken: »Wir wollen die Geburt eines industriellen und militärischen Venedigs vorbereiten, das in der Lage ist, die Adria, das große italienische Binnenmeer zu beherrschen.« Aber zum Glück erwies sich Venedig als widerständig genug, diese Industrialisierung vor seiner Tür zu halten: Mestre und Maghera wuchern heute an den Rändern. Als Sartre 1951 nach Venedig kam, lebten hier noch über vierhunderttau-