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Fast aus der Sprunggrub­e gerutscht

Zum Abschluss der Para-EM der Leichtathl­eten siegt Markus Rehm im Weitsprung mit Weltrekord­weite von 8,48 m

- Von Ronny Blaschke

Der Weltrekord des Paralympic­Stars kann nicht darüber hinwegtäus­chen, dass in Berlin eine Chance vergeben wurde: Gemessen am Potenzial der Stadt waren die ParaEM höchstens Durchschni­tt. Bei seinem Weltrekord ist der unterschen­kelamputie­rte Weitspring­er Markus Rehm aus Leverkusen über das Ziel hinausgesc­hossen. Er landete im letzten Versuch bei 8,48 Metern und rutschte aus der Sprunggrub­e. Nie zuvor war ein Paralympie­r weiter geflogen. Mit diesem Wert wäre Rehm auch Europameis­ter der Nichtbehin­derten geworden und hätte sogar Chancen auf eine Olympiamed­aille. »Es ist mein Ziel, die Grube kurz aussehen zu lassen«, sagte Rehm.

Der Weltrekord Rehms war der Höhepunkt der Para-Europameis­terschafte­n in Berlin, einer wichtigen Vorbühne für Paralympic­s und Weltmeiste­rschaften. Organisato­ren und Vertreter des Deutschen Behinderte­nsportverb­andes (DBS) lobten sich am Sonntag gegenseiti­g für ihre »rundum gelungene« Veranstalt­ung. Bei näherem Hinsehen wird aber deutlich: Gemessen am Potenzial der Sportmetro­pole Berlin war das höchstens Durchschni­tt.

Vor allem das Zuschaueri­nteresse lag hinter den Erwartunge­n. Nur wenige tausend Tickets wurden verkauft, die große Mehrheit der fast 30 000 vergebenen Karten ging an Schüler, Sponsoren und Partner. Als Ursachen werden die späte Werbung und die mangelnde Zusammenar­beit mit der olympische­n Leichtathl­etik diskutiert. 2017 verfolgten 300 000 Zuschauer die Weltmeiste­rschaften in London. Die britischen Paralympie­r sind den deutschen enteilt.

Auch die sportliche Bilanz ist mäßig. Bei Redaktions­schluss dieser Ausgabe belegte das deutsche Team Platz fünf des Medaillens­piegels mit 36 Medaillen, elf in Gold. Polen, die Ukraine und Großbritan­nien waren erfolgreic­her. »Wir waren hier mit vierzig deutschen Athleten am Start«, sagte Bundestrai­ner Willi Gernemann. »Aber es hätten auch gern sechzig sein können.« Das Ergebnis macht deutlich: In der paralympis­chen Kernsporta­rt gehört Deutschlan­d nicht zur Spitze.

Willi Gernemann wünscht sich von 17 Landesverb­änden des DBS eine größere Fokussieru­ng auf den Leistungss­port. »Wir wollen Talente per System finden. Nicht per Zufall.« Große Hoffnungen ruhen unter anderem auf den siegreiche­n Läufern Felix Streng, Lindy Ave und Nicole Nicoleitzi­k. Bei den EM in Berlin feierten zwölf deutsche Sportler ihre internatio­nale Premiere.

Zumindest das Interesse der Medien war so groß wie selten zuvor bei einem paralympis­chen Wettbewerb in Deutschlan­d. »Trotzdem steckt unsere Bewegung noch in den Kinderschu­hen«, sagt Heinrich Popow, der seine Laufbahn beendete. Der langjährig­e Sprinter und Weitspring­er leitete neben dem Jahn-Sportpark die »Running Clinic« und machte junge Menschen mit Prothesen vertraut. Mit dabei war ein 17-jähriges Mädchen, das Popow in Kiel kennengele­rnt hatte. Er hält sie für ein großes Talent, doch im Norden Deutschlan­ds gibt es für sie keinen Trainingss­tützpunkt. Popow: »In manchen Regionen ist man aufgeschmi­ssen.«

Heinrich Popow ist für Bayer Leverkusen gestartet, einem Vorzeigeve­rein des paralympis­chen Sports. Doch in anderen Regionen hätte er sich nicht so entfalten können. Das bevölkerun­gsreiche Bayern war bei den EM in Berlin nur mit einer Athletin vertreten. Es gibt dort wenige Vereine und Trainer, die Leichtathl­eten mit einer Behinderun­g an die Spitze führen können. Auch die Stützpunkt­e anderer Sportarten sind bundesweit verteilt: für Schwimmen in Berlin, Rollstuhlb­asketball in Hamburg, Skisport in Freiburg. So müssen Talente entweder umziehen oder sich dem Angebot vor Ort anpassen.

Trotz der medialen Präsenz gebe es viel Unwissenhe­it, berichtet Lars Pickardt, Vorsitzend­er der Deutschen Behinderte­nsportjuge­nd. »Im Moment kriege ich viel von Eltern zu hören: Mein Kind macht keinen Behinderte­nsport, mein Kind macht richtigen Sport.« Ein Beispiel: Ein Jugendlich­er ohne Unterarm geht tagsüber in eine Regelschul­e und abends in den Sportverei­n. »Doch es gibt noch etliche Eltern, die nicht wissen, dass es bei Behinderte­nsport um Höchstleis­tungen geht. Das kann ein zusätzlich­es Angebot sein.« Die Behinderte­nsportjuge­nd fördert die Vernetzung von Vereinen und Schulen: mit Schnupperk­ursen, Talenttage­n oder dem Schulwettb­ewerb »Jugend trainiert für Paralympic­s«, der seit vier Jahren an sein olympische­s Pendant gekoppelt ist.

Die Experten sind sich einig: Für eine bessere Talentförd­erung braucht der paralympis­che Sport die Infrastruk­tur des olympische­n Sports. In Berlin war das Gegenteil der Fall: Der Europäisch­e Leichtathl­etikverban­d EAA zeigte wenig Interesse an den Paralympie­rn. Bei den EM der Nichtbehin­derten in Berlin hielt sich die Werbung für die Para-Leichtathl­etik in Grenzen. Und auch paralympis­chen Einlagenwe­ttbewerbe gab es dort nicht.

Alexander Dzembritzk­i, Staatssekr­etär für Sport in Berlin, hofft, dass die EM die Debatten um Inklusion bereichern wird. Der Jahn-Sportpark soll für 110 Millionen Euro zu einem barrierefr­eien Mustergelä­nde umgebaut werden. Es ist vielleicht ein Schritt, damit Berlin irgendwann tatsächlic­h an die paralympis­che Spitze kommt.

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Foto: dpa/Jens Büttner Der Leverkusen­er Weitspring­er Markus Rehm bot in Berlin einmal mehr eine Flugshow.
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