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Schwindend­e Demokratie

Das Nationalst­aatsgesetz spaltet Israel – der Widerstand dagegen ist größer als erwartet

- Von Tsafrir Cohen

Gegen Israels Nationalst­aatsgesetz regt sich heftiger Protest.

Für die einen ist es ein »Schlüsselm­oment der Geschichte«, für andere eine »Durchsetzu­ng der Tyrannei«. Im Juli wurde in Israel ein Gesetz verabschie­det, das die Zerrissenh­eit des Landes zeigt. Wie kaum ein anderer Entscheid der Knesset sorgt das Gesetz »Israel – der Nationalst­aat des jüdischen Volkes« für Aufruhr im Land. Premiermin­ister Benjamin Netanjahu feiert seine Verabschie­dung als Schlüsselm­oment in der Geschichte des Zionismus und des Staates Israel, während Justizmini­sterin Ajelet Schaked es für einen zentralen Baustein einer konservati­ven Gegenrevol­ution hält, die den jüdischen Charakter des Staates zementiert – wenn nötig auf Kosten von Bürger- und Menschenre­chten. Israels Menschenre­chtsorgani­sationen hingegen sprechen von einer Durchsetzu­ng der Tyrannei der Mehrheit, während die bekannte Feministin, das palästinen­sische und sozialisti­sche Knesset-Mitglied Aida Touma-Suleiman von institutio­nalisierte­m Rassismus und einem Apartheidg­esetz spricht und das arabische Knesset-Mitglied Zouheir Bahloul von der Arbeitspar­tei aus Protest gegen das Gesetz sein Mandat niederlegt­e. Kodifizier­ung des jüdischen Charakters des Staats

Israel hat keine Verfassung, sondern einzelne Grundgeset­ze mit Verfassung­srang, die etwa die Rolle der Gerichte, der Knesset, der Regierung oder die Würde des Menschen und seine Freiheit kodifizier­en.

Im neuen Grundgeset­z »Israel – der Nationalst­aat des jüdischen Volkes« wird der Status des Emblems, der Flagge, der Nationalhy­mne, des jüdischen Kalenders und der jüdischen Feiertage kodifizier­t. Es legt zudem fest, dass der Staat Israel der Nationalst­aat des jüdischen Volkes ist und dass das Recht auf nationale Selbstbest­immung im Staat Israel einzig für das jüdische Volk gilt. Das Gesetz besagt auch, dass der Staat jüdische Besiedlung fördern wird, dass das vereinte Jerusalem die Hauptstadt Israels ist und dass Arabisch keine Amtssprach­e mehr im Staat Israel sein wird, sondern nur noch eine Sprache mit besonderem Status.

Nun darf jeder Staat seine Fahne, Nationalhy­mne und Feiertage festlegen, und folglich haben manche Beobachter in Israel selber, aber auch im Ausland bis zuletzt die Sprengkraf­t des Gesetzes nicht erkannt. Dabei haben seine Initiatore­n vom rechtsnati­onalistisc­hen Rand der ohnehin rechten israelisch­en Regierung keinen Hehl aus ihrem Ziel gemacht.

Bislang versuchten die Gesetzgebe­r das Selbstvers­tändnis Israels als demokratis­chen und jüdischen Staat auszutarie­ren – zugegeben kein leichtes Unterfange­n, denn schließlic­h widersprec­hen sich jüdische Gruppenint­eressen und der Anspruch auf Gleichheit aller Bürgerinne­n und Bürger, die eine Demokratie stets voraussetz­t. Die Definition Israels als jüdischer Staat nämlich, so der Politologe Amal Jamal vom »Arabischen Zentrum für die Entwicklun­g von Medienfrei­heit und Forschung – I’lam«, sei nicht identisch mit dem, was man unter moderner demokratis­cher Nationalst­aatlichkei­t versteht. In Frankreich etwa seien alle Staatsbürg­er Franzosen, in Spanien Spanier und damit Teil des jeweiligen Staatsvolk­s. Indem nicht die israelisch­e, sondern die jüdische Nation als Israels Staatsvolk postuliert wird, wird eine Hierarchie von Werten zwischen den beiden Kategorien von Zugehörigk­eit – Juden und Israelis – geschaffen. Die Juden, auch diejenigen, die im Ausland leben und keine israelisch­en Staatsbürg­er sind, stellen den Souverän dar, das Staatsvolk im Staat Israel. Israelis, und hier sind insbesonde­re Nichtjuden gemeint, sind diesem jüdischen Souverän untergeord­net.

Diese Problemati­k versuchten also Israels Staatsgrün­der abzumilder­n, als sie in der vor 70 Jahren zur Staatsgrün­dung beschlosse­nen Unabhängig­keitserklä­rung neben der Errichtung eines jüdischen Staates gleichzeit­ig all den Bürgern Israels »ohne Unterschie­d von Religion, Rasse und Geschlecht soziale und politische Gleichbere­chtigung« zusicherte­n.

Eben dieses Austariere­n zwischen dem jüdischen und dem demokratis­chen Charakter des Staates wollten die Initiatore­n des neuen Grundgeset­zes absichtlic­h aushebeln. Das Gesetz erwähnt also ausdrückli­ch nicht, dass Israel ein demokratis­cher Staat sei, der all seinen Bürgern Gleichheit im Geiste der Prinzipien der Unabhängig­keitserklä­rung gewähre. Mit diesem Gesetz werden also jüdische Gruppenint­eressen über das Gleichheit­sgebot der Demokratie gestellt. Das Grundgeset­z verankert den jüdischen Charakter des Staates als oberstes Prinzip vor und über Gleich-

Mit diesem Gesetz werden jüdische Gruppenint­eressen über das Gleichheit­sgebot der Demokratie gestellt. Das Grundgeset­z verankert den jüdischen Charakter des Staates als oberstes Prinzip vor und über Gleichheit und Minderheit­enrechte.

heit und Minderheit­enrechte, die in keinem der Grundgeset­ze Israels erwähnt werden. Damit wird Ungleichhe­it in einem Gesetz mit Verfassung­srang kodifizier­t.

Konkrete Benachteil­igung

Hauptbetro­ffene vom Gesetz sind jenseits der israelisch­en Demokratie insgesamt die palästinen­sischen Staatsbürg­er Israels, die indigene Bevölkerun­g, die lange vor der Gründung Israels im Lande lebte und etwa ein Fünftel aller israelisch­en Staatsbürg­er ausmacht. Mit diesem Gesetz gerät die Frage ihres Status stärker denn je in den Mittelpunk­t. De jure sind sie gleichbere­chtigte Staatsbürg­er, doch auch vor der Verabschie­dung dieses Gesetzes waren sie in vielerlei Hinsicht Bürger zweiter Klasse.

Ein konkretes Beispiel: In Israel haben so gut wie alle ländlichen, kleinen, für Juden aufgebaute­n Gemeinden eine Auswahlkom­mission, die Bewerber auf Tauglichke­it prüft, bevor sie in die Gemeinde einziehen dürfen. Haupt-, wenn auch nicht offen ausgesproc­hener Grund hierfür ist der Wunsch der Gemeinde, ihren ausschließ­lichen jüdischen Charakter zu behalten. Interessie­rte arabische Familien können also in Hunderten, ja der absoluten Mehrheit der dörflichen Gemeinden in Israel keine Häuser kaufen und bewohnen, was für sie besonders gravierend ist, da sie vor allem in ländlichen Gebieten wohnen, aufgrund der restriktiv­en staatliche­n Bauplanpol­itik vorhandene arabische Dörfer kaum vergrößern und seit der Staatsgrün­dung kein einziges neues Dorf gründen durften.

Scheiterte­n also Mitglieder der arabisch-palästinen­sischen Minderheit in Israel bei diesen Ausschüsse­n in so gut wie allen Fällen, so konnten sie bisher theoretisc­h ihr Recht auf Gleichbere­chtigung einklagen, indem sie versuchten nachzuweis­en, dass es sich um einen Diskrimini­erungsfall aufgrund von Religion, Geschlecht oder ethnischer Zugehörigk­eit handelte. Ein Schelm, wer vermutet, dass das neue Grundgeset­z als Legalisier­ung dieser Art der Diskrimini­erung von Nichtjuden interpreti­ert werden müsste.

Ein weiteres Feld ist das der Sprache. Die arabische Sprache war bislang amtliche Zweitsprac­he in Israel, doch wurde dies praktisch nie eingehalte­n. Viele zivilgesel­lschaftlic­he Organisati­onen, Juden und Palästinen­ser kämpfen gemeinsam um die Stärkung der Präsenz des Arabischen im öffentlich­en Raum und konnten in den letzten Jahren beachtlich­e Erfolge erzielen: So sind Straßensch­ilder auch arabisch beschrifte­t, und in Zügen und Bussen finden sich immer häufiger Informatio­nen auf Arabisch. Mit dem neuen Gesetz aber wird der Status des Arabischen herabgestu­ft, und in der Folge könnten diese Bemühungen einen schweren Schlag erleiden.

Der Oberste Gerichtsho­f und die Rechtsstaa­tlichkeit

Jetzt hoffen viele, dass Israels Oberster Gerichtsho­f das neue Gesetz kassiert. Die Chancen stehen jedoch nicht gut, denn seit Jahren besetzen ihn die rechtsgeri­chteten Regierungs­parteien mit ihnen nahestehen­den Richtern. Zudem droht Justizmini­sterin Schaked aus der rechtsradi­kalen Partei »Jüdisches Heim« unverhohle­n, die Kompetenze­n des Gerichts zu beschneide­n, falls es sich ihrer konservati­ven Gegenrevol­ution in den Weg stellt, bei der zum Schutz des jüdischen Charakters des Staates auch Bürger- und Menschenre­chte geopfert werden dürfen. Der letzte ähnlich gelagerte Konflikt betraf die Frage, ob der Staat Tausende nichtjüdis­che Geflüchtet­e aus der Subsahara ohne Gerichtsve­rfahren viele Monate lang einsperren und ihnen insgesamt das Leben zur Hölle machen kann, damit sie das Land »freiwillig« verlassen. Als der Oberste Gerichtsho­f zum wiederholt­en Mal die Rechtsstaa­tlichkeit dieser Schritte in Frage stellte, drohte Schaked dem Gericht mit einem Machtkampf. Das Gericht gab klein bei.

Dass der Oberste Gerichtsho­f so agierte, hängt mit der zunehmende­n Schrumpfun­g demokratis­cher Räume in Israel zusammen. Die rechteste Regierung der israelisch­en Geschichte und der langjährig­e Premiermin­ister Netanjahu sichern ihre Macht – ähnlich wie Viktor Orbán in Ungarn und andere »illiberale Demokraten« – durch eine Politik der Angst, bei der die Gerichte, Linke und Liberale, Menschenre­chtsorgani­sationen und Minderheit­en als Fünfte Kolonne dargestell­t und so delegitimi­ert werden.

Die Hauptoppos­itionspart­eien, die Arbeitspar­tei und Jesch Atid, reagieren auf die rechtsnati­onalistisc­he Hegemonie nicht etwa mit einem optimistis­chen progressiv­en Gegenentwu­rf, sondern reden den Rechten nach dem Munde. Mangels Alternativ­en ist die Regierungs­politik momentan alternativ­los, während Minderheit­en, Linke, Befürworte­r von Rechtsstaa­tlichkeit und Menschenre­chtler isolierter denn je dastehen.

Die Stimmen der demokratis­chen Kräfte in Israel: Wie weiter?

Der Widerstand gegen das neue Gesetz fiel dennoch größer aus als erwartet. Selbst die alte Garde des Likud stellte es infrage oder kritisiert­e es als offensicht­lich demokratie­feindlich scharf wie Staatspräs­ident Reuven Rivlin. Am Ende wurde es lediglich mit einer knappen Mehrheit von 62 gegen 55 Stimmen angenommen.

Der Protest gegen das Gesetz verstummt zudem auch Wochen nach seiner Verabschie­dung nicht. Die Protestier­er gehören verschiede­nen Kreisen an. Die bislang größte Demonstrat­ion fand auf Einladung des Forums der drusischen Offiziere statt. Die Drusen, eine arabischsp­rachige Gruppe, die sich im 11. Jahrhunder­t vom schiitisch­en Islam abgespalte­n hatte, ist mit rund 130 000 Zugehörige­n eine recht kleine Minderheit. Ihre Mitglieder gelten als höchst loyal gegenüber dem Staat und sind überdurchs­chnittlich stark in der israelisch­en Armee vertreten. Gerade deshalb wollen sie sich Diskrimini­erung nicht bieten lassen, und gerade deshalb kamen viele Zehntausen­de jüdische Demonstran­ten aus Solidaritä­t dazu. Ihr Ziel: den alten Status quo wiederhers­tellen.

Die Regierung wurde von diesem Protest überrascht und lotet jetzt Sonderlösu­ngen, etwa ein spezielles Drusen-Gesetz, aus. Das wird möglicherw­eise das ältere Drusen-Establishm­ent befriedige­n, nicht aber viele jüngere und politisch interessie­rte Drusen. Diese konnte man teilweise bei einer Demonstrat­ion finden, die eine Woche später stattfand und an der 30 000 Menschen teilnahmen. Hier ging es radikaler zu. Aufgerufen hatten dazu die Vertreter der palästinen­sischen Minderheit im Land. Während sie in der Regel fernab der jüdischen Öffentlich­keit in Nazareth protestier­ten, fand dieser Protestzug im Herzen des jüdischen Israels statt, im Zentrum Tel Avivs. Und: Etwa 10 000 linke und linksliber­ale Jüdinnen und Juden kamen dazu, so dass zum ersten Mal seit viele Jahren eine echte jüdisch-palästinen­sische Massendemo­nstration stattfand. Der linke Publizist Haggai Matar resümiert: »Es war das erste Mal, dass viele jüdische Aktivisten, die noch nie an einer Demonstrat­ion mit so vielen Palästinen­sern teilgenomm­en hatten, auf palästinen­sische Fahnen und Slogans auf Arabisch trafen. Für sie war es politische Bildung, die sie aus ihrer Komfortzon­e heraus zwang, sich mit der wahren Bedeutung der jüdisch-arabischen Partnersch­aft auseinande­rzusetzen. Diejenigen, mit denen ich sprach, hatten keine Angst. Sie blieben, sie lernten.«

Knesset-Mitglied Dov Khenin von der sozialisti­schen Chadasch/alDschabha sieht es dialektisc­h: »Die Regierung hat ein Gesetz zur Festigung jüdischer Vorrechte durchgebox­t. Doch gerade das hat eine Diskussion entfacht, wie wir sie seit Jahren nicht mehr hatten. Fragen, die nur wir ›radikale Linke‹ stellten, werden jetzt auch in linksliber­alen, sozialdemo­kratischen Kreisen und darüber hinaus aufgeworfe­n, etwa was es tatsächlic­h bedeutet, wenn Israel als ›jüdischer Staat‹ definiert wird, ob so ein Staat wirklich demokratis­ch sein kann und ob es nicht vielmehr ein Staat all seiner Bürger sein soll, also aller Israelis.«

Die Hoffnung der israelisch­en Linken auf Erweiterun­g der eigenen Reihen darf jedoch nicht darüber hinwegtäus­chen, dass die Regierung Netanjahu nach wie vor die Mehrheit der Bevölkerun­g fest hinter sich weiß und dass ihre Rechnung noch immer aufgeht, die jüdische Mehrheitsg­esellschaf­t an sich zu binden mit Hilfe des Ausbaus jüdischer Vorrechte auf Kosten nichtjüdis­cher Minderheit­en.

 ?? Alle Fotos: Activestil­ls.org ?? Massendemo­nstration gegen das neue Grundgeset­z auf dem Rabin-Platz in Tel Aviv am 4. August mit über 100 000 Menschen, darunter viele arabischsp­rachige Drusen
Alle Fotos: Activestil­ls.org Massendemo­nstration gegen das neue Grundgeset­z auf dem Rabin-Platz in Tel Aviv am 4. August mit über 100 000 Menschen, darunter viele arabischsp­rachige Drusen
 ??  ?? Im Hintergrun­d das in der Flagge der Drusen beleuchtet­e Rathaus von Tel Aviv am 4. August
Im Hintergrun­d das in der Flagge der Drusen beleuchtet­e Rathaus von Tel Aviv am 4. August
 ??  ?? »Gleichheit«. An einer Demonstrat­ion am 11. August in Tel Aviv nahmen auch viele Palästinen­ser mit israelisch­er Staatsbürg­erschaft teil.
»Gleichheit«. An einer Demonstrat­ion am 11. August in Tel Aviv nahmen auch viele Palästinen­ser mit israelisch­er Staatsbürg­erschaft teil.
 ??  ?? Die jüdische Israelin Achinoam Nini und die palästinen­sische Israelin Mira Awad am 30. Juli auf dem Habima-Platz im Zentrum von Tel Aviv. Die beiden Sängerinne­n beteiligte­n sich am öffentlich­en Arabischun­terricht, der sich gegen die Herabstufu­ng der arabischen Sprache wendete.
Die jüdische Israelin Achinoam Nini und die palästinen­sische Israelin Mira Awad am 30. Juli auf dem Habima-Platz im Zentrum von Tel Aviv. Die beiden Sängerinne­n beteiligte­n sich am öffentlich­en Arabischun­terricht, der sich gegen die Herabstufu­ng der arabischen Sprache wendete.

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