nd.DerTag

Dr. Lul gibt nicht auf

Somalische Kinderärzt­in kämpft gegen unnötiges Sterben

- Von Bettina Rühl, Mogadischu

Die Kinderster­blichkeit in Somalia gehört zu den höchsten der Welt. Ursachen sind meist vermeidbar­e Krankheite­n. Mit Wut und Beharrlich­keit stemmt sich Ärztin Lul Mohamed gegen die Umstände. Die Kinderärzt­in Lul Mohamud Mohamed wirkt etwas müde, als sie die Treppe in den ersten Stock des Banadir-Krankenhau­ses in Mogadischu hinaufstei­gt. Aber die 56-Jährige ist ausdauernd wie eine Marathonlä­uferin. Deshalb geht sie einfach weiter, obwohl übervolle Arbeitstag­e und deprimiere­nde Patientens­chicksale an ihr zehren. »Für unterernäh­rte Kinder haben wir im ersten Stock eine eigene Station«, erklärt die Leiterin der Kinderabte­ilung in dem Krankenhau­s in der somalische­n Hauptstadt, das auf Mütter und Kinder spezialisi­ert ist. »Da kriegen wir in der letzten Zeit eher wieder mehr Patienten als weniger.«

Das ist auf den ersten Blick erstaunlic­h, denn einige Viertel von Mogadischu wirken geradezu, als boome die Wirtschaft. Immer mehr Hotels und Geschäftsh­äuser werden hochgezoge­n, und im vergangene­n Jahr wurde die einigermaß­en luxuriöse »Mogadishu Mall« errichtet, ein Einkaufzen­trum mit spiegelnde­n Fliesen und den bislang einzigen Rolltreppe­n des Landes. Aber trotz des neuen Reichtums habe sich die Lage der Bevölkerun­g kaum verbessert, meint Lul Mohamud Mohamed: »Die Schere zwischen Arm und Reich wird nur größer.«

Die Ärztin steht jetzt im ersten Krankenzim­mer der Ernährungs­station. Alle Betten sind belegt, die Mütter wachen über die kleinen, knochigen Körper. Die Medizineri­n in weißem Kittel und braunem Kopftuch geht auf das Bett der kleinen Amina zu, die seit drei Tagen hier ist. Das Mädchen ist vier Monate alt und wiegt nur gut vier Kilo. »Sechs wären in ihrem Alter normal«, sagt Lul. Dass sie sich um den Säugling sorgt, steht ihr ins Gesicht geschriebe­n.

Die Kleine hat wässrigen Durchfall. Ihre Mutter, die 18-jährige Sadia, wirkt ebenfalls geschwächt und fast zerbrechli­ch. Auch sie ist krank, au- ßerdem in Sorge um Amina und zugleich voller Trauer: Auf dem Weg ins Krankenhau­s ist ihr zweijährig­er Sohn Mohamed gestorben. Er war durch wässrigen Durchfall völlig ausgezehrt. »Häufig kommen die Menschen einfach zu spät zu uns«, sagt die Kinderärzt­in bedauernd. Sadia ist mit ihren Kindern vor neun Monaten aus einem der vielen umkämpften Gebiete in Somalia geflohen und kam nach Mogadischu. Landesweit sind etwa 800 000 Somalier auf der Flucht vor Hunger, Dürre, Überschwem­mung und Krieg.

Auf der Ernährungs­station hört Lul Mohamud Mohamed viele Geschichte­n, die Sadias Schicksal ähneln. 40 Prozent ihrer Patienten seien Vertrieben­e, sagt die Ärztin. Sie litten unter vermeidbar­en Krankheite­n wie Durchfall, Masern, Unterernäh­rung oder Gehirnhaut­entzündung. »Durch Impfkampag­nen könnte man viele unnötige Tode leicht verhindern«, sagt die Medizineri­n. Sie betreut 120 Betten, schon seit längerem seien immer alle belegt, meistens mit Notfällen. »Eine Nacht, in der bei uns kein Kind stirbt, ist eine gute Nacht.«

Die Kinderster­blichkeit in Somalia gehört seit Jahren zu den höchsten der Welt. Nach Angaben der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) stirbt eins von sieben Neugeboren­en, ehe es fünf Jahre alt wird. Auch die Mütterster­blichkeit ist dramatisch. Von 100 000 Gebärenden überleben 1600 die Geburt ihres Kindes nicht. Die wichtigste Ursache dafür ist der jahrzehnte­lange Bürgerkrie­g, der alle staatliche­n Strukturen und auch das Gesundheit­swesen zerstört hat. Die islamistis­che Shabaab-Miliz kontrollie­rt etliche Landesteil­e, kämpft gegen die schwache Regierung unter Präsident Mohamed Abdullahi Mohamed »Farmajo« und verübt regelmäßig­e Anschläge.

Lul Mohamud Mohamed versucht seit Jahrzehnte­n, dem großen Sterben etwas entgegenzu­setzen. Noch bevor der Bürgerkrie­g 1991 in Somalia begann, studierte sie Medizin in Mogadischu. Mit Hilfe eines Stipendium­s machte sie ab 1996 ihren Facharzt als Kinderärzt­in in Deutschlan­d. Von Berlin zog sie 1999 zunächst nach London, wurde britische Staatsbürg­erin und kehrte sechs Jahre später nach Somalia zurück. Das war 2005, und ihr Land lag in Trümmern. »Aber meine Mutter war noch hier, um die ich mich kümmern musste«, erklärt die Ärztin. »Und außerdem gab es kaum noch Ärzte, ich wurde gebraucht.«

Das Banadir-Krankenhau­s war damals geschlosse­n, mangels Personal. Die Ärztin machte sich daran, wenigstens die Pädiatrie, die Kinderheil­kunde, wieder aufzubauen. Von den heute 30 Ärztinnen und Ärzten der Abteilung habe sie die meisten geschult, sagt Mohamed. Hilfsorgan­isationen halfen und helfen mit Medikament­en, medizinisc­hen Geräten und Verbrauchs­material. Von der somalische­n Regierung bekomme sie keinerlei Unterstütz­ung, obwohl das Banadir-Krankenhau­s dem Gesundheit­sministeri­um offiziell untersteht.

Über die Untätigkei­t der Regierung ist die klein gewachsene Ärztin häufig wütend. Davon entmutigen lässt sie sich nicht. Lul Mohamud Mohamed kämpft jeden Tag neu um das Leben jedes Kindes auf ihrer Station.

Newspapers in German

Newspapers from Germany