Die Arbeit der Zeit
Zu seinem 15. Todestag ist die erste Biographie des Dichters Peter Hacks erschienen
Das Lieblingswort der HacksForschung ist »Desiderat«. Es wird auf Fehlendes hingewiesen. Vor 15 Jahren noch – nach dem Tod des Dichters am 28. August 2003 – fehlte so gut wie alles: ein organisierter Betrieb, kommentierte Editionen, etablierte Periodika, Bibliografien, Medien-Verzeichnisse, Sammelbände mit Detailstudien. Selbst an Monografien gab es, Peter Schützes instruktive Studie von 1976 ausgenommen, nichts von Bedeutung. Auch die Hand voll tatsächlich interessanter Aufsätze, in denen damals schon die Analyse des Werks geleistet wurde, schufen keinen Grund, auf dem man stehen konnte.
Das sollte im Kopf behalten, wer nach der Bedeutung der Biografie fragt, die Ronald Weber jetzt zum 15. Todestag von Peter Hacks vorlegt. In diesen anderthalb Jahrzehnten sind die meisten der erwähnten Lücken geschlossen worden. Eine umfassende, detaillierte und lesbare Biografie schließt nun die letzte davon.
Es ist klar, dass Theorie und Werkdeutung der biografischen Forschung vorauseilen. Was einem Drama immanent ist, welchen gedanklichen Hintergrund es hat und wie es um seine ästhetischen Effekte, seine politischen oder philosophischen Ideen steht, lässt sich zur Not auch ohne ausgedehnte Archiv- und Bergungsarbeit herausfinden. Eine Biografie hingegen benötigt nicht bloß Arbeitszeit, sie braucht die Arbeit der Zeit, die reiche Grundlage, die ein Forscher allein und erst recht nicht ad hoc leisten kann.
Folglich vermag das biografische Werk kaum jemals mehr als eben anschaulicher zu machen, was theoretisch bereits erarbeitet wurde. Das wieder bedingt den Erfolg dieser Gattung. Wenn man sonst nichts liest, Lebensbeschreibungen liest man. Ronald Weber hat nun den Versuch unternommen, das eine zu wahren und das andere zu erreichen; eine Ge- dankenbiografie zu schreiben über einen Schriftsteller, der, 1928 in Breslau geboren, 1955 von München nach Berlin (DDR) übersiedelte.
Webers Quellenarbeit zeigt das Äußerste dessen, was beim gegenwärtigen Stand des Materials möglich ist. Es wird weitere Funde geben, Zeugnisse, Dokumente. Schwer vorstellbar hingegen ist, dass eine Biografie mehr Theorie und Deutung enthalten könnte. Webers Biografie hat kaum Längen, sie liest sich vom Beginn weg zügig, und praktisch jede Seite treibt den Lesenden in tiefere Gedanken.
Natürlich ist da auch Angreifbares. So etwa Ronald Webers Überlegungen zur Strategie Walter Ulbrichts im Umfeld des 11. ZK-Plenums 1965, wobei er die Wirtschafts- und Kulturpolitik einfach analog setzt statt als widersprüchliche Beziehung. So auch bei der Behandlung des Frühwerks, wo einige Elemente zu kurz kommen, die sich mit Blick auf Hacksens spätere Entwicklung (Romantikstreit, Attacken gegen das Regietheater z.B.) sinnvoll etablieren ließen. Das sind aber wenige Fälle auf 540 Seiten, und selbst dort, wo Einwände nötig sind, verhandelt Weber seine Fragen nie unter Traufhöhe.
Die Lesbarkeit liegt zum andern an der Sprache, die auf Verständlichkeit gerichtet, nicht zu trocken und manchmal eher schon zu feuilletonistisch ist. Die gelegentlichen Ballungen rhetorischer Fragen sind anstrengend, so etwas muss man mögen. Dass die biografische Erzählung durchweg im historischen Präsens vermittelt wird, ist gleichfalls der Gewöhnung bedürftig, aber dahinter könnte der Gedanke stecken, dass das die angemessene Form der Darstellung eines Dramatikerlebens ist. Geschichtliches so zu erzählen, dass es gegenwärtig und unmittelbar verkörpert erscheint, ist die Wirkweise des dramatischen Genres.
Auch in Bezug auf die Darstellungsform meidet Ronald Weber Allzuepisches. Er gliedert die Kapitel nach Perioden (Kindheit, Zeit in München, Brechtphase, sozialistische Klassik usw.), die zugleich durch inhaltliche Schnitte im künstlerischen Schaffen und im Denken definiert sind. Innerhalb der Abschnitte bricht Weber die Chronologie jedoch oft und erzählt das Leben von Hacks in Loops, die bestimmte Komplexe in sich geschlossen abhandeln und dabei unauffällig die Abhandlungen der folgenden Komplexe vorbereiten. So entsteht eine Ring- oder Kettenkomposition, die eine übergreifende, nach vorn schreitende Bewegung besorgt. Aufkommende Vor- und Rückgriffe sind nicht kollateral, sondern zweck- gemäß, um Verständnis zu befördern. Das Verfahren scheint einer Gedankenbiografie adäquat, bei der ja der Akzent auf der inneren Entwicklung des Subjekts liegt und die Vorgänge des beschriebenen Lebens eher Mittel zur Veranschaulichung dieser Entwicklung sind.
Es lassen sich bei Weber vier Stränge unterscheiden, mit denen er innerhalb der Kapitel die relevanten Komplexe abhandelt: Milieu, Politik, Werke, Ideen. Im Grunde erzählt Weber damit das Leben des Peter Hacks in vier Storylines, zwischen denen er hin- und herspringt. Die Trennung ist sinnvoll, auch wenn die Abfolge nicht immer ganz glücklich ist. Im Abschnitt zum Beginn der sechziger Jahre etwa – jener Zeit, die als die wichtigste in der Entwicklung Hacksens gelten muss, weil er dort sein ästhetisches Credo gefunden und auch allmählich seine Version des historischen Materialismus entwickelt hat – werden die ästhetischen Ideen von Weber erst behandelt, nachdem er über Vorgänge im Ostberliner Milieu, kulturpolitische und sonstige Kollisionen in BRD und DDR sowie Hacksens dramatische Werke dieser Periode geschrieben hat. Es kann schon sein, dass es keinen Anfang gibt, der nicht etwas setzt, das durch ihn erst erreicht werden soll. Dennoch ist hier die Entwicklung der ästhetischen Ideen primär, weil sich selbst das Sammeln antiker Möbel und die zwanghaft unpolitischen Salons, die Hacks in den sechziger Jahren veranstaltete, daraus erklären.
Der Biograf hätte schlechte Arbeit geleistet, wenn sein Werk sich in wenigen Worten fassen ließe. Wenn man nach einer Art Story in den Stories sucht – etwas, das sich dieser Beschreibung des Lebens von Peter Hacks entnehmen und selbst in eine Erzählung verwanden ließe –, dann wäre es wohl die eines durch poetische Begabung weit aus seiner Zeit ragenden Menschen, der von allen politischen Lagern – eingeschlossen seinem eigenen – Prügel bezog und sich davon aber in seiner grundsätzlichen Entscheidung für die Sache (und sein Lager) nie hat beeinflussen lassen. Den Akzent hierauf musste Ronald Weber gar nicht setzen, der Stoff (Hacks) und die Gattung (Biografie) haben ihm das abgenommen. Die täglichen Kämpfe, die einer zu führen hatte, interessieren in der Biografie eher als in der Analyse seiner Werke. Dass die weit darüber hinausreichen, ändert nichts daran, dass sie bis dorthin zurückreichen. Es macht nur die Arbeit deutlich, die in der poetischen Aufhebung von Lebenserfahrung liegt.
Ronald Weber: Peter Hacks. Leben und Werk. Eulenspiegel-Verlag, 608 S., geb., 39 €.