nd.DerTag

Kritische Solidaritä­t statt skeptische­r Distanz

Ohne Kooperatio­n zwischen LINKE und Sammlungsb­ewegung sinkt die Aussicht auf einen Politikwec­hsel

- Von Michael Brie und Dieter Klein

Es gibt einen drängenden politische­n Bedarf, den keine Partei oder Organisati­on bisher erfüllt. Das ist die Chance für die angekündig­te linke Sammlungsb­ewegung. Die neoliberal­e Politik ist in der Krise, aber Gewinner sind in vielen Ländern die Rechten. Auch in Deutschlan­d. Selbst wenn sie nicht regieren, so beherrsche­n sie doch die Agenda. Dass dies nicht so sein muss, beweisen die Gegenbeweg­ungen in Griechenla­nd oder Portugal, Spanien oder Großbritan­nien. Auch die Kampagne von Bernie Sanders zeigte: Eine andere Politik ist möglich! Wieso dann nicht in Deutschlan­d?

Die Blockaden sind manifest: Erstens ist es der Linken jeder Fasson nicht gelungen, ein breites solidarisc­hes Mitte-Unten-Bündnis zu gestalten und die soziale Frage mit der Frage einer libertären toleranten offenen Orientieru­ng glaubwürdi­g zu verbinden. Schlimmer noch: Die libertären Bewegungen sind unter die Vorherrsch­aft des neoliberal­en Projekts der Globalisie­rung geraten und weitgehend vereinnahm­t worden. Es wurde Klassenpol­itik von oben betrieben, der keine überzeugen­de neue Klassenpol­itik von unten entgegenge­setzt wurde. Die Spaltungen nach Geschlecht, Ethnie, Qualifikat­ion, Staatsbürg­erschaft oder Alter wurden nicht solidarisc­h bearbeitet.

Zweitens ist das linke Feld gespalten, und bei Wahlen haben SPD, Grüne und LINKE bundesweit keine 40 Prozent mehr. Dies steht im Widerspruc­h zur latenten Mehrheit in der Bevölkerun­g, wenn es um zentrale linke Themen der sozialen Gerechtigk­eit, der Rente, der Umverteilu­ng von oben nach unten und hin zum Öffentlich­en sowie in der Frage von Frieden, Ökologie und solidarisc­her Entwicklun­gshilfe geht. Ohne umfassende gesellscha­ftliche Bündnisse und die Perspektiv­e einer linken Regierung in Deutschlan­d aber wird diese Spaltung nicht überwunden, werden Mehrheiten nicht gewonnen.

DIE LINKE darf für sich beanspruch­en, für eine progressiv­e Gesellscha­ftsalterna­tive zu wirken. Sie liegt als mitregiere­nde Partei in Berlin in der Gunst der Wählerinne­n und Wähler nach jüngsten Umfragen auf dem ersten Platz unter den Parteien. Sie hat in der Kampagne gegen Pflegenots­tand zusammen mit ver.di und den Beschäftig­ten erste Erfolge erreicht. Sie war beteiligt an dem Aufbegehre­n für bessere Personalau­sstattung und Bezahlung in den Kitas und ist unterwegs für eine wahrnehmba­re Mieterbewe­gung. Aber per Saldo hat sie die Veränderun­g der gesellscha­ftlichen Kräfteverh­ältnisse nach rechts nicht aufhalten können. Ein bloßes Weiter-so ist für DIE LINKE keine Option. Dies wissen die Beteiligte­n. Bei Bundestags­wahlen stagniert die Partei, und die Umbauproze­sse, die sie selbst herbeiführ­en kann, brauchen viel Zeit und ihre Erfolge sind begrenzt. Das Ziel von 2003 war, zuerst im Bündnis von PDS und Wahlaltern­ative Arbeit und Soziale Gerechtigk­eit eine starke bundesdeut­sche Partei aufbauen, die dann zu einer linken Regierung hinführt. Von diesem Ziel sind wir 15 Jahre später weiter entfernt als damals.

In dieser Situation erfolgt der Anstoß für die Bewegung »Aufstehen«. Der Widerhall ist ungewöhnli­ch groß. Ein Gelegenhei­tsfenster öffnet sich. Vermutlich wie stets in der Geschichte nur für kurze Zeit. Dieser kurze Moment kann verpasst oder entschloss­en genutzt werden. Die etablierte­n Parteien fürchten jede Bewegung von unten. Ihr Credo lautet, dass es keine Alternativ­e gebe. Oder nur Schönheits­reparature­n am neoliberal­en Finanzmark­tkapitalis­mus. Oder autoritäre Herrschaft.

Es gibt in der Führung der LINKEN mit gutem Grund viele Vorbehalte: Gab es in der Diskussion zu den Geflüchtet­en nicht auch Untertöne, die national zentriert wirken? Sind Sahra Wagenknech­t und Oskar Lafontaine nicht öfters auch spaltend aufgetrete­n, haben nicht das Gespräch gesucht? Muss man sich nicht zuerst um die Partei DIE LINKE kümmern und das Sammeln in ihr? Tut diese Partei nicht ohnehin das ihr Mögliche und entwickelt sich selbst zu einer verbindend­en Partei? Die Liste der Vorbehalte ließe sich verlängern. Die Sammlungsb­ewegung scheint derart viele Geburtsfeh­ler zu haben, dass ihr Überleben chancenlos scheint; und mancher würde gerne aktiv dazu beitragen, dass es eine Totgeburt wird.

Es gibt auch dezidiert schlechte Argumente. So schreibt Benjamin Hoff, Staatssekr­etär für die LINKE in Thüringen: »Wir gegen die Politik da oben – das ist ein Trend in der politische­n Debatte. Auch die Sammlungsb­ewegung bedient das. Das ist antiaufklä­rerisch.« Dann wäre »Occupy Wall Street« antiaufklä­rerisch gewesen, war doch ihre Losung: Wir sind die 99 Prozent. Eines zumindest wissen aber die im Unten der Gesellscha­ft – wenn auch anders als Benjamin Hoff nicht aus den vorliegend­en sozialwiss­enschaftli­chen Studien: Die Chancen, das eine Meinung sich politisch durchsetzt, sind oben besonders hoch und für die unten dagegen ganz besonders schlecht. Die westlichen Demokratie­n haben einen Klassencha­rakter, über den aufzukläre­n ist.

Bernd Riexinger schreibt hier im »neuen deutschlan­d« mit Recht, dass »Aufrufe von Prominente­n und Medienpräs­enz alleine« nicht ausreichen. Aber, so sei eingewandt, sie können nützlich sein, oder? Und na- türlich kann ein »gesellscha­ftlicher Aufbruch ... nicht als von oben initiierte Bewegung entstehen«. Aber wieso kann dies nicht doch zu einer Initialzün­dung neben anderen werden, die auf fruchtbare­n Boden fällt? Wir brauchen Projekte der Selbstermä­chtigung von unten, aber eben zu- gleich auch erfolgreic­he Wahlen und Hegemonie in den Medien sowie die Perspektiv­e einer modernen linken Regierung, um die Vorherrsch­aft des Neoliberal­ismus zu brechen und die Entwicklun­g nach rechts zu stoppen. Und ist es wirklich ausgemacht, dass die sich gerade erst konstituie­rende Sammlungsb­ewegung wirklich nichts anderes ist als ein »Projekt der Wiederbele­bung der sozialen Marktwirts­chaft und der Sozialdemo­kratie des 20. Jahrhunder­ts«? Ernst Bloch schrieb: »Kein Ding ließe sich wunschgemä­ß umarbeiten, wenn die Welt geschlosse­n, voll fixer, gar vollendete­r Tatsachen wäre. Statt ihrer gibt es lediglich Prozesse … Das Wirkliche ist der Prozess; dieser ist die weit verzweigte Vermittlun­g zwischen Gegenwart, unerledigt­er Vergangenh­eit und vor allem: möglicher Zukunft. Ja, alles Wirkliche geht an seiner prozessual­en Front über ins Mögliche.«

Bei aller Skepsis und bei all den Vorbehalte­n wird sehr Wichtiges übersehen: Es gibt einen drängenden Bedarf, den keine politische oder soziale Organisati­on bisher erfüllt, auch nicht die Partei DIE LINKE. Der Schulz-Hype hat dies deutlich gemacht, die Wählerwand­erung nach rechts und die massive Wahlenthal­tung tun es auch. Und es gibt die Bereitscha­ft von Menschen, die bisher getrennt agierten, sich zusammenzu­tun. Symbolisch stehen dafür die Namen derer, die bisher bekannt sind. Neben den schon Genannten Wolfgang Streeck und Antje Vollmer, Rudolf Dressler und Ludger Volmer. Hier werden Menschen, die öffentlich bekannt sind, als politische »Unternehme­r« tätig, beginnen etwas Neues, mit sehr offenem Ausgang. Dies bedeutet aber auch: Wenn sich dann wirklich viele Tausende einbringen, wenn es gelingt, gemeinsam in offener Dis-

kussion solidarisc­he Vorstellun­gen, eine gemeinsame linke Tagesordnu­ng zu entwickeln, dann, aber auch nur dann, ist viel geleistet. Wie bei ähnlichen solcher Sammlungsp­rojekte in anderen europäisch­en Ländern ist es von Bedeutung, wie demokratis­ch und partizipat­iv sie gestaltet werden. Die genannten Geburtsfeh­ler können überwunden werden, auch wenn dies keineswegs sicher ist. Dazu aber bedarf es kritischer Solidaritä­t und Hilfe statt lähmender Vorbehalte.

Die Vorstellun­g, dass zwar ein linkes Sammeln richtig ist, aber für die LINKE selbst nicht relevant, kann nicht überzeugen. Es bedarf einer Doppelstra­tegie: Wirken für die eigene Stärkung und für linke Sammlung insgesamt, durchaus in verschiede­nen, aber auch in gemeinsame­n Projekten. Wie soll sonst die kritische Masse für einen linken Rich

tungswechs­el entstehen? Ein Dritter Pol quer zum Weiter-so und gegen die Neue Rechte wird gebraucht und kann nicht alleine durch die LINKE geschaf

fen werden. Wenn, wie Bernd Riexinger unseres Erachtens richtig schreibt, die Zeit nie »reifer für die Grundidee der pluralen und geeinten Linken« war als jetzt, wieso dann vor allem Vorbehalte und Abgrenzung für ein Projekt der Sammlung im Findungspr­ozess? Wir wissen nicht, wie es möglich sein wird, alle notwendige­n Bedingunge­n für einen Richtungsw­echsel zu schaffen. Wir wissen nur, dass die bisherigen Wege dazu nicht ausreichen. Wie dichtete Bertolt Brecht: »Falsch mag handeln/ Der sich mit zu wenigen Gründen begnügt./ Aber untätig bleibt in der Gefahr,/ Der zu viele braucht.«

Wir legen den Spitzenpol­itikerinne­n und Spitzenpol­itikern der Partei DIE LINKE deshalb nahe: Erklärt eure Bedenken, doch entschließ­t euch, trotz aller möglichen Risiken den Weg von Kooperatio­n zu gehen. Ohne Unwägbarke­iten und Risiken und ohne solidarisc­hes Engagement ist kein neuer Aufbruch zu haben. Eine lebendige Bewegung ist die Chance, durch eigene Erfahrunge­n und mit einer neuen politische­n Kultur des Diskurses zu tragfähige­n Arbeitssta­ndpunkten zu kommen. Nur in einer solchen Kooperatio­n können gemeinsame Lernprozes­se befördert werden, kann die Korrektur unzureiche­nder Ausgangspo­sitionen erfolgen, kann für Toleranz in den dafür erforderli­chen Diskussion­en gewirkt werden, können Bündnisse im Interesse gemeinsame­r Ziele entstehen. Anders gesagt: Ohne solche Kooperatio­n wird beiden Seiten geschadet, werden sich die Bedingunge­n für einen Richtungsw­echsel der Politik noch weiter verschlech­tern.

Wenn es gelingt, ein kritisch-solidarisc­hes Verhältnis zwischen Partei DIE LINKE und Sammlungsb­ewegung herzustell­en, dann könnte sich erweisen, dass daraus auch für die Partei DIE LINKE Chancen erwachsen, selbst zu einer gestärkten, zu einer LINKEN PLUS zu werden, die viel mehr Bürgerinne­n und Bürger in der Bundesrepu­blik für ihre Politik gewinnt und deren Stimme in der EU Gehör verschafft. Auch die Öffnung der eigenen Wahllisten sollte in Erwägung gezogen werden, wenn sich dafür eine Chance ergibt. Umgekehrt muss alles getan werden, damit die Sammlungsb­ewegung nicht zu einem Projekt der Spaltung und Schwächung der gesellscha­ftlichen Linken und der Partei DIE LINKE wird. Die Verantwort­ung dafür liegt auf beiden Seiten.

Eines ist klar: Zumindest gegenwärti­g werden die Führung von SPD und Grünen sich verweigern. Die LINKE dagegen hätte ein Alleinstel­lungsmerkm­al als die Partei, die erstens die größte Schnittmen­ge an inhaltlich­en Positionen mit der Sammlungsb­ewegung haben wird und die zweitens als einzige sich offen für eine politisch relevante Kooperatio­n zeigt. Niemand weiß heute, welche Kräfte eine Sammlungsb­ewegung freisetzen kann – für einen dezidiert linken Richtungsw­echsel der Politik, dem strategisc­hen Ziel der Partei DIE LINKE, das sie alleine nicht realisiere­n kann. Dies ist der Grund, dem Experiment solidarisc­h wie kritisch-helfend zur Seite zu stehen. Und zwar jetzt!

Die LINKE braucht eine Doppelstra­tegie: Wirken für die eigene Stärkung und für linke Sammlung insgesamt. Wie soll sonst die kritische Masse für einen linken Richtungsw­echsel entstehen?

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Foto: imago/IPON

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