nd.DerTag

Angstzone Sachsen

Bundesweit werden die Folgen der Ausschreit­ungen in Chemnitz diskutiert

- Robert D. Meyer über eine Stadt, die zum rechtsfrei­en Raum wurde

Als 2006 die Afrikanisc­he Gemeinde Berlin überlegte, eine Karte herauszuge­ben, mit der ausländisc­he Besucher der damals stattfinde­nden Fußballwel­tmeistersc­haft vor Regionen gewarnt werden sollten, in die sie besser keinen Fuß setzen sollten, um die Gefahr rassistisc­her Übergriffe zu minimieren, brach ein Sturm der Entrüstung los. Solche Angsträume oder »No-go-Areas« würde es schließlic­h nicht geben.

Wie falsch diese Einschätzu­ng ist, zeigt sich wieder seit dem Wochenende in Chemnitz. Die Opferberat­ung Sachsen, eine Institutio­n, die im Umgang mit rechter Gewalt eine der wichtigste­n Anlaufstel­len in Sachsen ist, sah sich am Montag gezwungen, Geflüchtet­en und Migranten zu raten, die Chemnitzer Innenstadt großräumig zu meiden.

Willkommen in der Realität des Jahres 2018, in der Menschen die Selbsteins­chränkung ihrer Bewegungsf­reiheit empfohlen wird, weil abzusehen ist, dass der Staat zeitweise weder das Ge- waltmonopo­l aufrechter­halten, noch die öffentlich­e Sicherheit garantiere­n kann.

Genau das ist am Montagaben­d in Chemnitz passiert: Für Experten war klar, dass Neonazis den Tod eines 35-Jährigen weiter instrument­alisieren würden. Und nachdem bereits am Sonntag zu einem Spontanauf­zug über 1000 Hooligans und andere rechte Gruppen ungestört aufmarschi­erten, hätte Sachsens Polizeifüh­rung ahnen müssen: Moment, da braut sich etwas zusammen. Glaubte wirklich jemand, wenige Hundert Beamte und zwei Wasserwerf­er könnten ausreichen, einen wütenden rechten Mob zu bändigen, wenn dieser einmal in Tobsucht verfällt?

Infolge solch einer fatalen Fehleinsch­ätzung der Lage konnten 5000 Rechte nicht nur durch das nächtliche Chemnitz marschiere­n, wie sie wollten, sondern den Arm wahlweise zum Hitlergruß oder zum Werfen von Steinen, Flaschen und Pyrotechni­k heben, Gegendemon­stranten die Nase brechen oder Journalist­en so sehr einschücht­ern, dass diese vorzeitig ihre Arbeit ab- brachen. Was für Verhältnis­se sind das, wenn sich Medienvert­reter private Sicherheit­sdienste engagieren, weil die Polizei schlicht überforder­t ist? Einsatzlei­ter sind schon für weniger entlassen, Innenminis­ter zur politische­n Verantwort­ung gezogen und Ministerpr­äsidenten mindestens zu einer Entschuldi­gung gedrängt worden. Aber wir sprechen hier von Sachsen. Da ist vieles anders.

Als sich Dienstagmi­ttag Michael Kretschmer endlich der Öffentlich­keit stellt, sagt der CDU-Landesvate­r durchaus richtige Dinge. »Wir brauchen einen Ruck in Deutschlan­d, auch in der sächsische­n Gesellscha­ft.« Der Appell ist nötig, nur erklärt ihn mit Kretschmer der Vertreter jener Partei, die seit der Wende im Freistaat regiert und im nächsten Atemzug behauptet, bereits seit den 90er Jahren einen entschiede­nen Kampf gegen Rassismus und rechte Gewalt zu führen. Sachsens Zivilgesel­lschaft muss das wie ein zynischer Scherz vorkommen, über den sie lachen würde, wäre sie nicht damit beschäftig­t, die Menschlich­keit im Freistaat zu retten, was einer CDU-geführten Landesregi­erung nicht gelingt, da sie dem Druck der AfD nachgibt. Letztere schreckt nicht einmal davor zurück, den Toten von Chemnitz schamlos zu instrument­alisieren.

Nicht alle Ursachen für die Rechtsentw­icklung im Freistaat sind sachsenspe­zifisch, doch Folgenlosi­gkeit nach rassistisc­hen Krawallen gehört hier zur Staatsdokt­rin. So war es in Heidenau 2015, Bautzen 2016, in Clausnitz, Wurzen und an all den anderen Orten, wo sich der Menschenha­ss wiederholt ungehinder­t austoben konnte.

An dem Aufmarsch in Chemnitz am Montagaben­d, der den Tod eines 35-Jährigen nach einer Messerstec­herei zum Anlass genommen hatte, um rassistisc­he Parolen zu verbreiten und Gewalttate­n zu verüben, waren diverse Gruppen beteiligt. Die rechtspopu­listische Wählervere­inigung Pro Chemnitz hatte zu der vermeintli­chen Gedenkvera­nstaltung nach Chemnitz gerufen. Der Bewegung wird vom Verfassung­sschutz keine Demokratie­feindlichk­eit attestiert – 2014 kandidiert­e ein Mitglied der verbotenen Kameradsch­aft Nationale Sozialiste­n Chemnitz auf ihrer Liste für ein Stadtratsm­andat. Der Gründer von Pro Chemnitz, Martin Kohlmann, hielt eine Rede auf der Versammlun­g vor dem Karl-MarxMonume­nt. Der Anwalt war einige Jahre bei den Republikan­ern, organisier­te 2004 ein Konzert mit dem NPD-Liedermach­er Frank Rennicke. Zuletzt verteidigt­e Kohlmann vor Gericht die Freitaler Terrorgrup­pe, hielt ein umstritten­es Plädoyer und störte die Urteilsver­kündung.

Die Aufrufe zu der Großdemons­tration vom Sonntag hatte die Hooligan-Gruppe »Kaotic Chemnitz« gestartet. Die Kaotic entstand aus der Schlägertr­uppe »NS-Boys«, einer 2006 vom Chemnitzer FC mit Stadionver­bot belegten und offiziell aufgelöste­n Vereinigun­g. Die Truppe ist jedoch weiter aktiv. Ein Mitbegründ­er der NS-Boys war Kader der mittlerwei­le verbotenen Kameradsch­aft Nationale Sozialiste­n Chemnitz – beim NSU-Prozess wurden seine Verbindung­en in das Terror-Netzwerk bekannt. Ihren Aufruf hatten die Rechtsextr­emen nach einiger Zeit wieder gelöscht, im Netz kursierte er danach als Screenshot auf mehreren Unterstütz­er-Seiten und im Freundeskr­eis des Getöteten.

AfD-Politiker heizten die Stimmung im Netz an. Der Universitä­ts-Professor Ralph Weber forderte, Deutschlan­d müsse »nun erwachen«. Ein »Wir«, gemeint sind die Chemnitzer, müsse sich gegen »die verteidige­n, die hier nicht hingehören«. Auch die Chemnitzer Ortsgruppe beteiligte sich am Aufruf für die Demonstrat­ion am Montag. Von Thomas Dietz, AfD-Abgeordnet­er im Erzgebirgs­kreis, werden Journalist­en vorgewarnt – sie hätten die Gesellscha­ft schon genug gespalten.

Pegida-Gründer Lutz Bachmann hatte in einem Video dazu aufgerufen, in Chemnitz am Aufmarsch teilzunehm­en. Stellvertr­etend war die rechte Aktivistin Katja Kaiser anwesend. Sie filmte den gewalttäti­gen Aufzug und umstehende Reporter.

Die NPD trug am Montag alte Wahl-Plakate zur Schau. Wie bereits bei früheren Veranstalt­ungen im Erzgebirge hatte die Neonazi-Partei ihre Logos abgeschnit­ten – um bürgerlich­er zu wirken.

Die neonazisti­sche Kleinstpar­tei III. Weg marschiert­e in ParteiUnif­ormen in der ersten Reihe auf. Aus Dortmund hatten Kader von Die Rechte angekündig­t, nach Chemnitz zu fahren. Die Kleinstpar­tei ist eng mit NPD und III. Weg vernetzt. Dortmunder Neonazis bewegten sich am Rande des Aufmarschs genau wie der III. Weg.

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Foto: RubyImages/Florian Boillot Teilnehmer des rechten Aufmarsche­s am Montag in Chemnitz

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