Angstzone Sachsen
Bundesweit werden die Folgen der Ausschreitungen in Chemnitz diskutiert
Als 2006 die Afrikanische Gemeinde Berlin überlegte, eine Karte herauszugeben, mit der ausländische Besucher der damals stattfindenden Fußballweltmeisterschaft vor Regionen gewarnt werden sollten, in die sie besser keinen Fuß setzen sollten, um die Gefahr rassistischer Übergriffe zu minimieren, brach ein Sturm der Entrüstung los. Solche Angsträume oder »No-go-Areas« würde es schließlich nicht geben.
Wie falsch diese Einschätzung ist, zeigt sich wieder seit dem Wochenende in Chemnitz. Die Opferberatung Sachsen, eine Institution, die im Umgang mit rechter Gewalt eine der wichtigsten Anlaufstellen in Sachsen ist, sah sich am Montag gezwungen, Geflüchteten und Migranten zu raten, die Chemnitzer Innenstadt großräumig zu meiden.
Willkommen in der Realität des Jahres 2018, in der Menschen die Selbsteinschränkung ihrer Bewegungsfreiheit empfohlen wird, weil abzusehen ist, dass der Staat zeitweise weder das Ge- waltmonopol aufrechterhalten, noch die öffentliche Sicherheit garantieren kann.
Genau das ist am Montagabend in Chemnitz passiert: Für Experten war klar, dass Neonazis den Tod eines 35-Jährigen weiter instrumentalisieren würden. Und nachdem bereits am Sonntag zu einem Spontanaufzug über 1000 Hooligans und andere rechte Gruppen ungestört aufmarschierten, hätte Sachsens Polizeiführung ahnen müssen: Moment, da braut sich etwas zusammen. Glaubte wirklich jemand, wenige Hundert Beamte und zwei Wasserwerfer könnten ausreichen, einen wütenden rechten Mob zu bändigen, wenn dieser einmal in Tobsucht verfällt?
Infolge solch einer fatalen Fehleinschätzung der Lage konnten 5000 Rechte nicht nur durch das nächtliche Chemnitz marschieren, wie sie wollten, sondern den Arm wahlweise zum Hitlergruß oder zum Werfen von Steinen, Flaschen und Pyrotechnik heben, Gegendemonstranten die Nase brechen oder Journalisten so sehr einschüchtern, dass diese vorzeitig ihre Arbeit ab- brachen. Was für Verhältnisse sind das, wenn sich Medienvertreter private Sicherheitsdienste engagieren, weil die Polizei schlicht überfordert ist? Einsatzleiter sind schon für weniger entlassen, Innenminister zur politischen Verantwortung gezogen und Ministerpräsidenten mindestens zu einer Entschuldigung gedrängt worden. Aber wir sprechen hier von Sachsen. Da ist vieles anders.
Als sich Dienstagmittag Michael Kretschmer endlich der Öffentlichkeit stellt, sagt der CDU-Landesvater durchaus richtige Dinge. »Wir brauchen einen Ruck in Deutschland, auch in der sächsischen Gesellschaft.« Der Appell ist nötig, nur erklärt ihn mit Kretschmer der Vertreter jener Partei, die seit der Wende im Freistaat regiert und im nächsten Atemzug behauptet, bereits seit den 90er Jahren einen entschiedenen Kampf gegen Rassismus und rechte Gewalt zu führen. Sachsens Zivilgesellschaft muss das wie ein zynischer Scherz vorkommen, über den sie lachen würde, wäre sie nicht damit beschäftigt, die Menschlichkeit im Freistaat zu retten, was einer CDU-geführten Landesregierung nicht gelingt, da sie dem Druck der AfD nachgibt. Letztere schreckt nicht einmal davor zurück, den Toten von Chemnitz schamlos zu instrumentalisieren.
Nicht alle Ursachen für die Rechtsentwicklung im Freistaat sind sachsenspezifisch, doch Folgenlosigkeit nach rassistischen Krawallen gehört hier zur Staatsdoktrin. So war es in Heidenau 2015, Bautzen 2016, in Clausnitz, Wurzen und an all den anderen Orten, wo sich der Menschenhass wiederholt ungehindert austoben konnte.
An dem Aufmarsch in Chemnitz am Montagabend, der den Tod eines 35-Jährigen nach einer Messerstecherei zum Anlass genommen hatte, um rassistische Parolen zu verbreiten und Gewalttaten zu verüben, waren diverse Gruppen beteiligt. Die rechtspopulistische Wählervereinigung Pro Chemnitz hatte zu der vermeintlichen Gedenkveranstaltung nach Chemnitz gerufen. Der Bewegung wird vom Verfassungsschutz keine Demokratiefeindlichkeit attestiert – 2014 kandidierte ein Mitglied der verbotenen Kameradschaft Nationale Sozialisten Chemnitz auf ihrer Liste für ein Stadtratsmandat. Der Gründer von Pro Chemnitz, Martin Kohlmann, hielt eine Rede auf der Versammlung vor dem Karl-MarxMonument. Der Anwalt war einige Jahre bei den Republikanern, organisierte 2004 ein Konzert mit dem NPD-Liedermacher Frank Rennicke. Zuletzt verteidigte Kohlmann vor Gericht die Freitaler Terrorgruppe, hielt ein umstrittenes Plädoyer und störte die Urteilsverkündung.
Die Aufrufe zu der Großdemonstration vom Sonntag hatte die Hooligan-Gruppe »Kaotic Chemnitz« gestartet. Die Kaotic entstand aus der Schlägertruppe »NS-Boys«, einer 2006 vom Chemnitzer FC mit Stadionverbot belegten und offiziell aufgelösten Vereinigung. Die Truppe ist jedoch weiter aktiv. Ein Mitbegründer der NS-Boys war Kader der mittlerweile verbotenen Kameradschaft Nationale Sozialisten Chemnitz – beim NSU-Prozess wurden seine Verbindungen in das Terror-Netzwerk bekannt. Ihren Aufruf hatten die Rechtsextremen nach einiger Zeit wieder gelöscht, im Netz kursierte er danach als Screenshot auf mehreren Unterstützer-Seiten und im Freundeskreis des Getöteten.
AfD-Politiker heizten die Stimmung im Netz an. Der Universitäts-Professor Ralph Weber forderte, Deutschland müsse »nun erwachen«. Ein »Wir«, gemeint sind die Chemnitzer, müsse sich gegen »die verteidigen, die hier nicht hingehören«. Auch die Chemnitzer Ortsgruppe beteiligte sich am Aufruf für die Demonstration am Montag. Von Thomas Dietz, AfD-Abgeordneter im Erzgebirgskreis, werden Journalisten vorgewarnt – sie hätten die Gesellschaft schon genug gespalten.
Pegida-Gründer Lutz Bachmann hatte in einem Video dazu aufgerufen, in Chemnitz am Aufmarsch teilzunehmen. Stellvertretend war die rechte Aktivistin Katja Kaiser anwesend. Sie filmte den gewalttätigen Aufzug und umstehende Reporter.
Die NPD trug am Montag alte Wahl-Plakate zur Schau. Wie bereits bei früheren Veranstaltungen im Erzgebirge hatte die Neonazi-Partei ihre Logos abgeschnitten – um bürgerlicher zu wirken.
Die neonazistische Kleinstpartei III. Weg marschierte in ParteiUniformen in der ersten Reihe auf. Aus Dortmund hatten Kader von Die Rechte angekündigt, nach Chemnitz zu fahren. Die Kleinstpartei ist eng mit NPD und III. Weg vernetzt. Dortmunder Neonazis bewegten sich am Rande des Aufmarschs genau wie der III. Weg.