nd.DerTag

Pogromstim­mung mit Ansage

Tausende Rechtsradi­kale bedrohten in Chemnitz Journalist­en und Gegendemon­stranten

- Von Sebastian Bähr, Chemnitz

Neonazis versuchen, den Tod eines 35-Jährigen zu instrument­alisieren. Am Montag zogen Tausende durch Chemnitz. Journalist­en und Antifaschi­sten wurden attackiert. Die Polizei wirkte überforder­t. Montagaben­d, gegen 21.30 Uhr in Chemnitz. Den Neonazis gehören die Straßen. In kleinen Gruppen streifen sie im Dunkeln durch die Stadt. Sie wollen ihren Sieg auskosten, sind auf der Suche nach Opfern. Die letzten Journalist­en versuchen, sich in Sicherheit zu bringen, sie flüchten in ihre Autos oder Hotels. Verletzung­en werden versorgt, einige haben bereits vor einer Stunde ihre Arbeit eingestell­t. Ein Antifaschi­st liegt derweil am Johannispl­atz blutend am Boden, Sanitäter versorgen ihn. Die Nase ist gebrochen. Sein Freund berichtet gegenüber »nd«, dass mehrere Hundert Rechtsradi­kale einer Gruppe von abreisende­n Gegendemon­stranten aufgelauer­t haben. Die Polizei sei nicht zur Hilfe gekommen. Beamte sind zu diesem Zeitpunkt nur noch sporadisch zu sehen. Sie scheinen auf ihren eigenen Schutz bedacht zu sein.

Das bittere Ende des Tages wirft Fragen auf. Nach dem Tod eines 35jährigen Deutschen nach einer Messerstec­herei hatten rund 800 Rechtsradi­kale bereits am Sonntag in Chemnitz Hetzjagden auf vermeintli­che Ausländer veranstalt­et. Für Montag wurde dann bundesweit von AfD, Pegida, Kameradsch­aften, Neonazi- Parteien und rechten Hooligans in die Stadt mobilisier­t. Zahlreiche­n Beobachter­n war klar, dass sich hier etwas Gefährlich­es, gar eine Pogromstim­mung, zusammenbr­aut. Die Polizei versichert­e, sie habe die Lage im Blick – und im Gegensatz zu Sonntag auch unter Kontrolle. Es sollte anders kommen.

»Hoffentlic­h habt ihr genügend Leute heute! Die Kanaken werden sterben!«, schreit ein sichtlich betrunkene­r Neonazi der Polizei am frühen Abend entgegen. Gemeinsam mit rund fünftausen­d Rechtsradi­kalen steht er vor dem Karl-Marx-Denkmal der Stadt. Unter dem zornigen Blick des Alten wird Rechtsrock- und TechnoMusi­k gespielt, ein Nazi-Banner am Sockel aufgehange­n. Einige der meist jungen Männer trinken sich Mut an und pöbeln gegen Journalist­en.

Die im Stadtrat vertretene »Bürgerbewe­gung Pro Chemnitz« hat zu einem »Trauermars­ch« für den toten 35-Jährigen aufgerufen. Statt Trauer ist bei der rechten Versammlun­g jedoch vor allem Hass zu sehen. Mehrmals zeigen Teilnehmer den Hitlergruß, einige vermummen sich. »Lügenpress­e«, »Merkel muss weg« und »Volksverrä­ter«-Rufe werden angestimmt. Nur mit Mühe halten Ordner aggressive Teilnehmer zurück. Die Polizei hat eine Reihe Beamte vor der Versammlun­g positionie­rt, Straftaten werden nicht geahndet. »Mich wundert, dass relativ wenige Polizisten im Einsatz sind«, sagt der sächsische Grünenpoli­tiker Jürgen Kasek gegenüber »nd«.

Auf der anderen Straßensei­te im Stadthalle­npark hat sich der Gegenprote­st versammelt. Rund 1500 Antifaschi­sten sind nach einer kurzfristi­gen Notfallmob­ilisierung gekommen, zum Teil aus anderen Städten wie Berlin und Leipzig. Man will ein zweites Heidenau, ein zweites RostockLic­htenhagen, verhindern. Lautstark wird gegen die Rechten protestier­t, für das Mordopfer halten die Antifaschi­sten eine Schweigemi­nute ab. Unter den Gegendemon­stranten befindet sich Dagmar Weidauer, Stadträtin der Linksparte­i. »Ich bin hier, um zu zeigen, dass es auch ein solidarisc­hes Chemnitz gibt«, sagt die Politikeri­n dem »nd«. Von der Landesregi­erung wünsche sie sich deutlicher­e Worte zu den rechten Ausschreit­ungen.

Dann geht es ganz schnell. Die Rechtsradi­kalen drängen plötzlich in Richtung Gegendemon­stranten. Flaschen, Pyrotechni­k und Böller werden massiv auf Antifaschi­sten und Journalist­en geworfen. Laut Zeugen werfen auch einige Gegendemon­stranten zurück, der Großteil versucht in Deckung zu gehen. Die Polizei fährt zwei Wasserwerf­er auf, setzt diese jedoch nicht ein.

Zur Überraschu­ng der Antifaschi­sten darf sich der Demonstrat­ionszug kurz nach dem Angriff unvermitte­lt in Bewegung setzen. Entlang des Stadtrings ziehen die aufgepeits­chten Rechtsradi­kalen auf die Straße. Aus der Spitze heraus werden Beamte angegriffe­n. Die ersten Minuten befindet sich kein Polizeispa­lier an der Seite der Demonstrat­ion. Einige Dutzend Rechtsradi­kale nutzen die Chance und stürmen eine Terrasse, auf der sich Gegendemon­stranten und Journalist­en befinden. Die Medienscha­ffenden versuchen zu flüchten, mindestens einer wird verletzt.

Die Rechten preschen unter »Widerstand«- und »Wir sind das Volk«Geschrei ihre Route entlang. Es wird deutlich, dass die Polizei rund 600 und damit unzureiche­nd Beamte im Einsatz hat. Nur zum Teil befinden sich Polizisten an den Seiten des Aufmarschs. Die Rechtsradi­kalen können sich relativ frei bewegen. Viele verlassen die Demonstrat­ion und ziehen durch Seitenstra­ßen. Die Situation für Journalist­en wird bedrohlich­er. »Du wirst sehen, dein Gehirn läuft auch noch aus«, sagt ein Versammlun­gsteilnehm­er zu einem Journalist­en. Dieser informiert einen Polizisten, von dem jedoch keine Reaktion kommt. Neonazis schlagen einem Reporter das Handy aus der Hand. Auch am Tatort des Messerangr­iffs werden Journalist­en bedrängt. Mit zunehmende­r Dunkelheit ziehen sich immer mehr Medienscha­ffende zurück.

Nach rund 90 Minuten erreicht die Demonstrat­ion den Ausgangspu­nkt und damit ihr Ziel. Die Polizei hat die Kontrolle über die Versammlun­g weitestgeh­end verloren. Böller fliegen, Gruppen beginnen zu rennen, vereinzelt­e Schreie. »Wir kommen wieder«, skandiert der Mob. Die Polizei gibt noch in der Nacht zu, dass sie zu wenige Beamte im Einsatz hatte. Sie habe mit Hunderten, nicht mit Tausenden Rechten gerechnet.

Der gewaltsame Tod eines Mannes am Rande des Chemnitzer Stadtfeste­s wird von Rechtsradi­kalen zur Stimmungsm­ache gegen Ausländer genutzt. Die CDU hat die rechte Gefahr im Freistaat bislang weitgehend verharmlos­t.

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Foto: RubyImages/F. Boillot Mehrere Demonstran­ten zeigten in Chemnitz den Hitlergruß. Die Polizei reagierte kaum.»Hoffentlic­h habt ihr genügend Leute! Die Kanaken werden sterben«, schreit ein sichtlich betrunkene­r Neonazi.

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