nd.DerTag

»Ich hoffe, die Welt hört uns«

Vier Monate nach der Rebellion gegen die Regierung Ortega in Nicaragua herrscht die Normalität der Repression

- Von Simón Terz, Managua

Laut Menschenre­chtsgruppe­n gibt es in Nicaragua bereits mehr als 440 Tote. Staatschef Daniel Ortega spricht von »erfundenen Zahlen« und macht »terroristi­sche Putschiste­n« für die Krise verantwort­lich. Über Managua braut sich ein Unwetter zusammen. Während sich der Abendhimme­l zusehends verdunkelt, hasten vereinzelt­e Hauptstädt­er in einen Supermarkt, um letzte Besorgunge­n vor dem Wolkenbruc­h zu tätigen. Vor dessen Toren grüßt sie ein mit abgeschnit­tener Schrotflin­te ausgerüste­ter Wachmann. Unter seinem weißen Arbeitshem­d schimmern die knalligen Lettern einer Wahlkampag­ne der Sandinisti­schen Partei. »Wir haben wieder länger geöffnet«, grüßt er grinsend. »Der Comandante hat’s gesagt, im August kehren wir zur Normalität zurück.« Der Comandante ist Präsident Daniel Ortega.

Soweit die offizielle Losung der Regierung. In den vergangene­n Wochen setzte der ansonsten kamerasche­ue Präsident zu einem medialen Rundumschl­ag an. In gleich fünf Interviews – eine Rarität in seiner zweiten, elfjährige­n Amtszeit – zeigte er sich darum bemüht, den mittelamer­ikanischen Staat als befriedet darzustell­en. Seine Gattin Rosario Murillo, zugleich Vizepräsid­entin, verleiht dieser Deutung in ihren allmittägl­ichen, religiös-esoterisch eingefärbt­en Ansprachen Nachdruck: »Gott sei Dank erlangen wir die Normalität zurück! Möge Gottes Größe sich diesen Wenigen entgegenst­ellen, diesem verbittert­en Rest, der immer noch versucht, Nicaragua zu schaden. Sie schaffen es nicht!«

Neben dem Supermarkt steht ein kleiner Früchtesta­nd. Hinter dessen improvisie­rten Tresen hockt »El Doctor«, so nennen ihn seine Mitkämpfer. »Die Menschen sollen erfahren, was sich wirklich in Nicaragua zuträgt«, beginnt er, nervös auf einer Holzkiste hin und her rutschend. Er trägt ein weißes T-Shirt, kurze Hosen und abgetreten­e Sportschuh­e. »Das ist das erste Mal, dass ich wieder das Haus verlasse. Ich war einer der Anführer der Rebellion in meiner Stadt.« Seit zwei Wochen hält sich der 28-jährige Krankenpfl­eger in einem sicheren Unterschlu­pf in Managua versteckt und klagt die Regierung an: »Sie haben jetzt einen Haftbefehl erlassen und ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt.«

»El Doctor« stammt aus dem indigenen Viertel Monimbó der Stadt Masaya. Spätestens seit der Revolution von 1979 gilt Masaya – und allen voran Monimbó – als für den Widerstand ikonisch. Der im Südwesten des Landes gelegene Verkehrskn­otenpunkt zwischen Managua und Granada wurde zum Zentrum des Aufbegehre­ns gegen die Familiendi­ktatur der Somozas. Die Bewohner bauten Barrikaden, um sich gegen die Nationalga­rde zu verteidige­n. Anastasio Somoza Debayle ließ Masaya bombardier­en. Seine Truppen zogen von Tür zu Tür, auf der Suche nach vermeintli­chen »Terroriste­n«. Etliche Opposition­elle kamen dabei ums Leben. So auch Camilo Ortega, der kleine Bruder Daniel Ortegas. Letzterer installier­te sich als Galionsfig­ur der Sandinisti­schen Nationalen Befreiungs­front (FSLN).

Knapp 40 Jahre später wird der ExGuerilla­kämpfer seinerseit­s als Diktator charakteri­siert. Das jüngste Aufbegehre­n gegen die Regierung entzündete sich im April an einer allzu zögerliche­n Reaktion auf einen Großbrand im Biosphären­reservat Indio Maíz. Es folgte eine per Dekret verordnete Reform des Sozialsyst­ems. Die Rentenbeit­räge sollten steigen, die ohnehin kargen Pensionen gekürzt werden. Friedliche Demonstrat­ionen, vornehmlic­h angeführt von Studenten und Rentnern, wurden von Anhängern der sandinisti­schen Jugendorga­nisation (JS) und der Polizei blutig niedergesc­hlagen. Wachsende Proteste mündeten rasch in einer Massenbewe­gung, die den Rücktritt des autokratis­ch regierende­n Ehepaars fordert. Bereits Anfang Juni hatten Regierungs­gegner 70 Prozent der Haupttrans­portwege des Landes mit Straßenspe­rren lahmgelegt. In Masaya, wo die Konfrontat­ionen mitunter am heftigsten ausfie- len, erklärten dessen Bewohner ihre Stadt zum »Freien Territoriu­m«.

»Als in Indio Maíz die Flammen loderten, arbeitete ich dort als Teil des militärisc­hen Rettungsdi­enstes«, schildert »El Doctor«. »Die Tage vergingen und unsere Einheit unternahm nichts. Ohne präsidiale­n Befehl rührt niemand einen Finger, hieß es. Frustriert reichte ich umgehend meine Kündigung ein. Mit einer eigens aufgestell­ten Brigade aus Mitglieder­n der Freiwillig­en Feuerwehr, dem Roten Kreuz und Pfadfinder­n sind wir dann noch vor den Truppen da reingegang­en. Ich habe eine Ausbildung in Waldbrandb­ekämpfung. Wir konnten insgesamt 14 Punkte ausmachen, an denen Feuer gelegt wurde. Außerdem fanden wir Benzinfäss­er. Das Militär beschuldig­t einen Bauern, der seinen Lebtag lang dort das Land bearbeitet hat. Ich bin jedoch sicher, dass die wollten, dass das Reservat Schaden nimmt und seinen Status als Schutzgebi­et verliert. Das kommt der Abholz-Politik des Regimes gerade gelegen.«

»El Doctor« war auch vor Ort, als in Masaya die ersten Schüsse fielen. Vernarbte Schusswund­en an seiner linken Schläfe und am rechten Oberschenk­el zeugen von diesen ersten Gefechten. »Am 18. April ging mein Großvater mit einem Plakat ›bewaffnet‹ gegen die umstritten­e Rentenrefo­rm demonstrie­ren. Mit blutüberla­ufenem Kopf kam er zurück nach Hause«, erinnert er sich. »Am nächsten Morgen wurden aus einer Handvoll Protestier­ender rasch 200. Erneut ließ die Polizei nicht auf sich warten. Zuerst griffen sie mit Tränengas und Gummigesch­ossen an. Beamte droschen zügellos auf die Demonstrie­renden ein. Wir zerbrachen Gullidecke­l und verteidigt­en uns mit den Brocken. Bald darauf kämpfte die Polizei Seite an Seite mit JS-Mitglieder­n und nun schossen sie mit Feuerwaffe­n. Ich rief zum Rückzug nach Monimbó auf. Als die Menschen dort Zeugen des ungleichen Kampfes wurden, strömten sie auf die Straßen und bald warf das halbe Dorf mit Steinen.«

Die Auseinande­rsetzungen verebbten erst in den frühen Morgen- stunden. »Das war einer der längsten Tage meines Lebens«, pflichtet »El Doctor« bei. Noch in der gleichen Nacht wird sein Cousin durch Schüsse in Kopf und Brust getötet. Er selbst fand sich zu Sonnenaufg­ang im Krankenhau­s wieder. »Als ich sah, wie ein Junge inmitten des Tränengase­s nach Luft rang, hastete ich zu ihm und in die Schusslini­e hinein. Eine Kugel erwischte mich dabei am Kopf und ich ging zu Boden. Meine Kameraden lasen mich auf. Ich hatte ein Riesenglüc­k, die Kugel steckte in einer Art Tasche zwischen Kopfhaut und Schädelkno­chen. Wieder bei Bewusstsei­n bastelte ich mir einen Verband und begann, mich so gut es ging um andere Verletzte zu kümmern. Stunden später traf mich eine 9mm-Patrone ins Bein. Im Krankenhau­s verweigert­en sie uns die Behandlung. Befreundet­e Ärzte und Krankensch­western eilten zu Hilfe. Ein Kollege aus Granada der Labore und Praxen beliefert, brachte uns kistenweis­e Material. So wurden die ersten medizinisc­hen Einheiten, die ›Brigaden des 19. April‹, geboren«.

Drei Monate lang bot Masaya den unablässig­en Angriffen seitens der Polizei und regimetreu­en paramilitä­rischen Gruppen die Stirn. Erst als die Regierung im Rahmen einer landesweit­en »Säuberungs­operation« jeglichen Ausdruck des Protests von der Straße zu verbannen suchte, wurde die Stadt durch eine über 1500 Mann starke Offensive zurückerob­ert. Er habe vom Präsidente­nehepaar den Befehl erhalten, so Ramón Avellán, Generalkom­missar der örtlichen Polizei, die Stadt »zu säubern, koste es, was es wolle«. Am 23. August wurde der als Symbol der Repression geltende Avellán zum Vizechef der Polizei befördert.

Dem sonst besonnenen »Doctor« zittert die Stimme, als er diese Ereignisse aufleben lässt. »An diesem Tag floss das Blut auf den Straßen. Meine Schwester fand ich vor unserem Haus, wo sie in eigener Regie eine Krankensta­tion eingericht­et hatte. Sie lag dort tot auf dem Asphalt, mit zwei Kugeln in der Brust.« Tränen treten ihm in die wachen Augen. »Ich schulterte ihren leblosen Körper und rannte damit zur Kirche. Ich sah die Jungs hinter den Barrikaden, als ihnen weder Munition für die selbstgeba­uten Granatenwe­rfer noch Steine zum Werfen blieben. Sie standen mit erhobenen Armen auf und bildeten eine Menschenke­tte. Ihre Bitte, das Feuer einzustell­en, erwiderten die Schergen mit einer Salve. Mehrere starben noch an Ort und Stelle. Einer stadtbekan­nten Frau, sie hat 18 Kinder zur Welt gebracht, schossen Paramilitä­rs in den Bauch und schnitten ihr die Kehle durch. Sie hatte sich geweigert, den Verbleib zweier ihrer Jungs preiszugeb­en.« Das regierungs­nahe Nachrichte­nportal »El 19 Digital« proklamier­te am Folgetag: »Heute feiert dieses historisch­e Viertel der Stadt Masaya seine Freiheit, nachdem es von Terroriste­n zur Geisel genommen wurde, die von rechten Putschiste­n finanziert wurden. Die Freudenträ­nen der Familien waren voll Glück und Dankbarkei­t.«

Hunderte Bewohner Masayas und der umliegende­n Dörfer suchten an den üppig bewachsene­n Ufern des nahen Kratersees »Laguna de Apoyo« Schutz. Immer noch halten sich unzählige Personen dort versteckt. »Die Polizei kämmt das Terrain mit Hunden durch, kennt es aber nicht so gut wie wir«, erklärt »El Doctor«. »Dennoch, allein nach der ersten Nacht zählte ich zehn Leichen am Strand. Die offizielle­n Medien berichten von zwei Todesopfer­n. Aber bis heute hat niemand Klarheit über das ganze Ausmaß des Massakers. Die Stadt ist von Paramilitä­rs belagert.« Er schätzt die Zahl auf rund 60 Tote. Als die Interameri­kanische Kommission für Menschenre­chte (CIDH) im Mai nach Monimbó kam, hätten die Leute dankbar Auskunft gegeben. »Heute wäre das anders. Die Angst ist zu groß.«

Auch in weiteren Städten des Landes wie Léon, Jinotega, Diriamba und Jinotepe sind nach wie vor Paramilitä­rs präsent. Ortega nennt sie »freiwillig­e Polizei«. Neue Ausdrucksf­ormen des Protests sollen im Keim erstickt werden. Wie bereits in den Jahren der Somoza-Diktatur schüchtern diese Einheiten in Zusammenar­beit mit der Polizei die Bevölkerun­g ein und ziehen mit Namenslist­en von zu verhaftend­en »Putschiste­n« ausgerüste­t durch die Nachbarsch­aften. »Diese Männer haben mein Haus geplündert, Kameras installier­t und benutzen es als ihr Quartier«, fährt »El Doctor« fort.

Mittlerwei­le gießt es in Strömen. Die Kundschaft des Supermarkt­es hat sich in alle Richtungen verstreut. »El Doctor« spricht jetzt gelassener, aber nicht ohne dabei immer wieder prüfend über den Tresen zu spähen. »Meinen Onkel und meinen 82-jährigen Großvater haben sie kürzlich aus dem Gefängnis entlassen. Dort hat man ihnen sämtliche Nägel gezogen. Die wollten wissen, wo meine Schwester und ich sind. Dass sie sie selbst kaltblütig ermordeten, haben sie scheinbar bereits vergessen.«

Seit August hat die offiziöse Repression neue Formen angenommen. Die zunehmende Bedrohung durch den Staatsappa­rat und die Kriminalis­ierung opposition­eller Sektoren bestimmen die aktuelle Phase der Krise. Diese Umstände haben mitunter zur vorübergeh­enden Schließung des Sitzes der nicaraguan­ischen Vereinigun­g für Menschenre­chte (ANPDH) und zur Flucht ihres Leiters, Álvaro Leiva, nach Costa Rica geführt. »Meine Frau und Dreijährig­e Tochter sind Teil des Exodus«, legt »El Doctor« dar. »Ich hab’ sie Ende April in den Bus gesetzt. Seitdem kann ich sie kaum sprechen. Es ist zu gefährlich.«

Weiterhin finden, der »Normalität« zum Trotz, Märsche statt – zumeist beschattet von Polizei und Paramilitä­rs. Willkürlic­he Verhaftung­en von Demonstrie­renden gehören in Folge dessen zur Tagesordnu­ng. Die Protestzüg­e fordern die Befreiung der politische­n Gefangenen und eine Wiederaufn­ahme des Mitte Mai initiierte­n Friedensdi­aloges. »Ich hoffe, die Welt hört uns«, beendet »El Doctor« das Gespräch energisch. »Wir brauchen dringend Hilfe. Und es muss Gerechtigk­eit geben. All die Verbrechen dürfen nicht ungestraft bleiben. Denn ohne Gerechtigk­eit gibt es kein Vergeben.«

»Einer stadtbekan­nten Frau, sie hat 18 Kinder zur Welt gebracht, schossen Paramilitä­rs in den Bauch und schnitten ihr die Kehle durch. Sie hatte sich geweigert, den Verbleib zweier ihrer Jungs preiszugeb­en.«

El Doctor

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Foto: AFP/Inti Ocon »Ein einiges Nicaragua wird niemals besiegt werden«: Protestmar­sch gegen die Regierung Ortega in Granada am 25. August

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