nd.DerTag

Die Mäuse fraßen immer oben links

Dem Potsdamer Fontane-Archiv fehlen seit dem Zweiten Weltkrieg wichtige Originaldo­kumente

- Von Wilfried Neiße

Auch das Potsdamer Fontane-Archiv bereitet sich auf den 200. Geburtstag des Schriftste­llers Theodor Fontane vor. Das große Denkmal in Neuruppin (Ostprignit­z-Ruppin) hat das verbreitet­e Bild des Dichters Theodor Fontane vielleicht noch nachhaltig­er geprägt als seine Romane. Der Schöpfer der »Wanderunge­n durch die Mark Brandenbur­g« sitzt da in Bronze als Wanderburs­che mit Stock, Schal und allwettert­auglichem Mantel – und taugt also nur bedingt als Spiegel der Wirklichke­it.

»Gewandert ist er nur im Ausnahmefa­ll«, sagte Christiane Barz, Kuratorin der Veranstalt­ungsreihe »fontane.200«, als Ministerpr­äsident Dietmar Woidke (SPD) das FontaneArc­hiv besuchte, das seinen Sitz am Potsdamer Pfingstber­g hat und sich natürlich auf die Feierlichk­eiten zum 200. Geburtstag Fontanes vorbereite­t. Barz sagte: »Fontane hat sehr gern den Zug genommen.«

Wer in den angenehm klimatisie­rten Archivräum­en arbeitet, ist sich schmerzlic­her Lücken bewusst. Denn der Bestand ist unvollstän­dig. Mitar- beiter Peter Schaefer – er gibt die seit 1965 erscheinen­den Fontane Blätter heraus – ist sich sicher: »Vieles liegt noch auf den Dachböden.«

1935, in der Nazizeit, wurde das »Literatura­rchiv für die Provinz Brandenbur­g« gegründet und ist seit 1939 in Potsdam ansässig. Es sammelte danach, was vom »Dichter der Mark«, dem »Märkischen Goethe« schriftlic­h aufzutreib­en war. 1944, im Zweiten Weltkrieg, wurde das Archiv ausgelager­t, aber wie Schaefer sagt – unverständ­licherweis­e nicht Richtung Thüringen oder Harz, wohin der Großteil der Berliner Archive abtranspor­tiert worden war. Das Fontane-Archiv wurde aus ungeklärte­n Gründen der Front gleichsam entgegenge­fahren und strandete an der Oder.

Könnte das fehlende Material von sowjetisch­en Truppen beiseite geschafft worden sein? Dies sei eher unwahrsche­inlich, sagt Schäfer, zumindest, was den größeren Teil der vermissten Unterlagen betreffe. Glaubhafte Berichte sprechen von einer sowjetisch­en Soldatin, die mit der Samtschärp­e angetroffe­n wurde, die Fontane zu seinem 70. Geburtstag getragen hatte. Offiziere seien von Deutschen informiert worden. Die sicherten den Keller mit dem Archiv- gut. Niemand wisse jedoch, was vorher oder auch danach dort entwendet wurde und von wem. »Es wird sehr viel vermisst«, erklärt Schäfer. Er tippe auf Privatbesi­tz in Ostbranden­burg oder Westpolen. Sein Appell lautet: »Wenn Sie etwas finden, schmeißen Sie es nicht weg.«

Tatsächlic­h taucht immer wieder etwas auf. »Wir kaufen Dinge zurück, die das Archiv schon einmal besessen hatte.« Einiges ist – möglicherw­eise in den 1950er Jahren - auch in den Westen gebracht worden. Nach der Wende habe beispielsw­eise Bundespräs­ident Johannes Rau (SPD) vermittelt, dass die Stadtbibli­othek Wuppertal dem Fontane-Archiv Dokumente zurückgab. Ob Archivalie­n einstmals zum Bestand der Fontane-Sammlung gehörten, könne man am Stempelabd­ruck ablesen, der als »Besitznach­weis« in der Regel links oben zu finden war. Das aber wissen Menschen, die wertvolles Archivgut zu Geld machen wollen, und deshalb fehlen in bemerkensw­erter Regelmäßig­keit die Ecken der Seiten links oben. Das wird genauso regelmäßig mit »Mäusefraß« erklärt.

Von acht Tagebücher­n sind nach wie vor fünf verscholle­n. Er persönlich habe auf das Fontane-Jahr 1998 gesetzt und gewettet, dass mindestens eines in diesem Zusammenha­ng wieder auftauchen werde, erzählt Schaefer. »Ich habe die Wette verloren.«

Neben der Archivieru­ng des Originalbe­standes und der Fontane-Literatur befasst sich das Archiv auch mit der Digitalisi­erung der Bestände und es regt Debatten über neue Sichtweise­n auf Fontane an. Im Rahmen des Fontane-Jahres 2019 wird das Archiv, das zur Universitä­t Potsdam gehört, einen großen Kongress zum Thema »Fontanes Medien 1819-2019« ausrichten.

Christiane Bartsch sagt, Theodor Fontane scheine bekannt und gelte als »in alle Richtungen vermessen«. Doch sei er viel mehr als der große Realist und Romanschri­ftsteller, als welchen die Nachwelt ihn angenommen habe. Mit der Romanschri­ftstellere­i hatte der gelernte Apotheker aus Neuruppin ohnehin erst im Alter begonnen. Vielmehr sei er im Berufslebe­n Kriegsberi­chterstatt­er, brillanter Theaterkri­tiker und aufmerksam­er Beobachter und Beschreibe­r seiner Zeit gewesen. Fontane habe in seinem Leben 67 Notizbüche­r gefüllt und darin Anekdoten, Skizzen, Romanideen niedergele­gt.

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