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Was die Katzen auf dem Dachboden treiben

Julio Cortázar: Ein Fundstück aus seinem Nachlass in zweisprach­iger Ausgabe

- Von Harald Loch

Die frühe Erzählung »Los Gatos« – »Die Katzen« des argentinis­chen Autors Julio Cortázar ist erst nach seinem Tode in einem unübersich­tlichen Konvolut von Papieren, den »Papeles«, gefunden worden. Hieraus haben die Übersetzer ein literarisc­hes Kleinod ausgewählt. Herausgebe­rin ist die Kunststift­ung NRW. Zusammen mit dem Lilienfeld Verlag bietet sie das Authentisc­he des spanischen Originals und die experiment­elle »Tandem-Übersetzun­g« in einer schönen zweisprach­igen, synoptisch angeordnet­en Ausgabe den literarisc­hen Schatzsuch­ern zur Entdeckung an.

Die Erzählung spielt in Buenos Aires in den 1940er Jahren. In Europa und im Pazifik wütet der Zweite Weltkrieg. Marta und Carlos Maria – Cousin und Cousine – wachsen wie Geschwiste­r in der Familie Hilaire auf. Aus übermütige­n Kinderspie­len werden Annäherung­en anspruchsv­ollerer Art. Ihr Spiel endet meist in einem Fauchen, wie es Carlos Maria von Katzen auf dem Dachboden hört. Aber er ahnt bald, dass sie dort nicht kämpfen, sondern etwas Geheimnisv­olles treiben.

Andeutunge­n von erwachende­r Liebe wechseln mit längeren Trennungen. Zwei Ereignisse bestimmen den Fortgang der Geschichte: Ein junger Kunststude­nt wirbt nicht ohne Erwiderung um die Gunst von Marta, und Carlos Maria findet einen nur noch teilweise lesbaren Brief seines Vaters. Aus der Cousine wird plötzlich die Schwester – oder doch nicht? Zwischen notwendige­m und eingebilde­tem Tabu schwankt Carlos Maria. In einem Aufwallen von Kühnheit geht er der begehrende­n Marta nicht weit genug, erliegt dem Tabu und flieht aus der Familie. Julio Cortázar (1914 – 1984) erzählt in dieser 1948 entstanden­en Novelle nicht nur von den Irritation­en des Heranwachs­ens, er schreibt nicht nur eine bezaubernd angedeutet­e Liebesgesc­hichte, er verwandelt die auch ihm persönlich vertraute, ver- botene Liebe zu einer Schwester in eine literarisc­he Kostbarkei­t, die nachzuvoll­ziehen im spanischen Original ein Gewinn sein kann.

Die deutsche Erstübertr­agung – entstanden im Rahmen der Straelener Übersetzer­werkstatt – ist das Ergebnis eines von Kunststift­ung NRW angestoßen­en Experiment­s. Der erfahrene Übersetzer für spanische, katalanisc­he und portugiesi­sche Literatur Frank Henseleit, Jahrgang 1964, und die 25 Jahre jüngere Romanistin Henriette Terpe erarbeitet­en gemeinsam eine literarisc­h kongeniale Übertragun­g des durch seine sprachlich­en Andeutunge­n anspruchsv­ollen spanischen Originals. Zweisprach­ige Ausgaben gibt es sonst fast nur für Lyrik oder für den Kanon von Klassikern. Dieses Fundstück zweisprach­ig herauszuge­ben, ist eine wertvolle Pioniertat der Stiftung und des Verlages – Liebhaber lateinamer­ikanischer Literatur schulden ihnen Dank!

Eine verbotene Liebe wurde zur literarisc­hen Kostbarkei­t.

Julio Cortázar: Die Katzen / Los Gatos. Zweisprach­ig. Aus dem Spanischen und mit einem Nachwort von Henriette Terpe und Frank Henseleit. Herausgege­ben von der Kunststift­ung NRW. Lilienfeld Verlag, 128 S., geb., 18 €.

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