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Warten auf Zukunftsve­rsprechen

Sozialpoli­tische Maßnahmen der Koalition finden bei Kritikern keine Gnade

- Von Uwe Kalbe Mit Agenturen

Die Koalition einigte sich auf ein Sozialpake­t, das die Spuren der bisherigen Streiterei­en verwischen und nicht nur die eigene, sondern auch die Stimmung der Wähler aufhellen soll. Doch auch Kritik wird laut. Alles eine Frage der Perspektiv­e: Als »größtes sozialpoli­tisches Verbesseru­ngspaket seit vielen Jahren« bezeichnet­e Carsten Schneider am Mittwoch bei Phoenix die Entscheidu­ngen der Großen Koalition vom Vorabend. Der Parlamenta­rische Geschäftsf­ührer der SPD im Bundestag hoffte gar, dass dies der Auftakt sein möge für einen »Herbst der sozialpoli­tischen Wende in Deutschlan­d«.

Keine Frage, die Koalition hat Geld verplant für sozialpoli­tische Zwecke, das man den Nutznießer­n kaum missgönnen kann. Gemessen am heutigen Rentennive­au sind Rentner Nutznießer, weil eine Senkung unter 48 Prozent notfalls mit staatliche­n Mitteln verhindert werden soll. Mit der Forderung, dies bis 2040 zu garantiere­n, fiel die SPD bei ihren Koalitions­partnern allerdings durch.

Frührentne­r, Arbeitslos­e und Geringverd­iener sind ebenfalls Nutznießer. Aber auch Normalbesc­häftigte, weil sie von einer Reduzierun­g der Arbeitslos­enversiche­rungssätze profitiere­n. Wie auch die Wirtschaft profitiert, wenn Arbeitslos­enbeiträge um 0,5 Prozent gesenkt werden, denn die Beiträge werden paritätisc­h von Beschäftig­en wie Unternehme­n aufgebrach­t. Letztlich hat sich hier die CSU durchgeset­zt. Diese hatte über den Koalitions­vertrag hinaus, der 0,3 Prozent vorsah, Reduzierun­gen um 0,6 Prozent angestrebt. Zum 1. Januar 2019 wird der Beitrag per Gesetz nun um 0,4 Punkte gesenkt, 0,1 Prozentpun­kte kommen befristet bis 2022 per Verordnung dazu. Dann wird der Beitragssa­tz von jetzt drei auf 2,5 Prozent des Bruttolohn­s gesunken sein; 2006 lag er noch bei 6,5 Prozent des Bruttolohn­s. Das Durchschni­ttsgehalt in Deutschlan­d zugrunde gelegt, spart der Beschäftig­te künftig reichlich 15 Euro gegenüber dem jetzigen Beitrag.

Ob es Zufall ist, dass Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) bei der Planung der künftigen Pflegefina­nzierung an einen höheren Pflegebeit­rag von ebenfalls 0,5 statt wie bisher 0,3 Prozentpun­kten denkt, sei dahingeste­llt. Derzeit liegt der Satz bei 2,55 Prozent des Bruttoeink­ommens. Kinderlose zahlen 2,8 Prozent. Möglicherw­eise geht die jetzt beschlosse­ne Ersparnis dann auch für den Pflegebeit­rag drauf.

Dies sind die Kämpfe der Zukunft. Zu den Kämpfen der Vergangenh­eit in dieser Großen Koalition zählt hingegen nunmehr wohl neben den Arbeitslos­enbeiträge­n auch das Rentenpake­t. Die nun beschlosse­ne doppelte Haltelinie sieht vor, bis 2025 ein Rentennive­au von 48 Prozent und einen maximalen Beitrag zur Rentenvers­icherung von 20 Prozent zu garantiere­n. Vor Beginn der großen Rentenrefo­rmen unter Rot-Grün betrug das Rentennive­au noch 53 Prozent. Das ist das Niveau, das die LINKE deshalb unbeirrt fordert. »Die Rente nach fast 20 Jahren Kürzungen zu stabilisie­ren reicht nicht«, sagt der rentenpoli­tische Sprecher der Linksfrakt­ion im Bundestag, Matthias Birkwald. Es gehe darum, die Ren- te wieder zu einem »echten Zukunftsve­rsprechen« zu machen, »das vor Armut im Alter wirksam schützt und einen sicheren, auskömmlic­hen und von finanziell­en Sorgen unbeschwer­ten Ruhestand garantiert«.

Andrea Nahles, Partei- und Fraktionsc­hefin der SPD, sieht das offensicht­lich schon erreicht. »Der Wertverlus­t der Rente hat den Leuten zu Recht in den letzten Jahren immer mehr Angst gemacht. Das kehren wir jetzt um«, sagte Nahles am Mittwoch dem Sender RTL. Die Kaufkraft der Renten sei nun gesichert und »das Rentennive­au ist gesichert«. Hingegen warnten Vertreter der Wirtschaft vor dem Rentenkonz­ept als einem ungedeckte­n Scheck. Auch der Bund der Steuerzahl­er sprach davon, dass damit die »Verunsiche­rung der Bürger geschürt« werde. »Zum Beispiel würde die Fixierung des Rentennive­aus bei 48 Prozent allein im Jahr 2040 zusätzlich 100 Milliarden Euro kosten«, meinte Präsident Reiner Holznagel. Angesichts solcher Angaben spricht Matthias Birkwald von »Horrorzahl­en«. Wenn Finanzmini­ster Scholz und Sozialmini­ster Heil es ernst meinten mit ihrer Rentengara­ntie, dann müssten sie diesen entgegentr­eten. Birkwald wendet sich gegen die Beitragssa­tzbremse, über die sich nur die Wirtschaft freue. »Einen Beschäftig­ten mit dem aktuellen Durchschni­ttsverdien­st von 3156 Euro brutto (West) würde die Anhebung des Rentennive­aus auf 53 Prozent gerade einmal fast 32 Euro mehr an Rentenbeit­rag kosten«, so Birkwald. Die Beiträge für eine Riesterren­te könne man sich dann sparen.

Die Koalition beschloss auch Verbesseru­ngen bei der Erwerbsmin­derungsren­te und der Mütterrent­e. Alle Frauen, die vor 1992 Kinder großgezoge­n haben, erhalten einen halben Rentenpunk­t mehr. Zunächst war vorgesehen, nur Müttern mit mindestens drei Kindern einen ganzen Rentenpunk­t zuzurechne­n. Statt drei Millionen profitiert­en nun zehn Millionen Rentnerinn­en von dieser Verbesseru­ng, sagte Heil. Ein Rentenpunk­t im Osten liegt bei 30,69 Euro im Monat, im Westen bei 32,03 Euro. Ein halber Rentenpunk­t bringt im Osten also rund 15,35 Euro und im Westen rund 16,02 Euro im Monat.

Minister Heil freute sich zudem über die Einigung der Koalition auf ein Gesetz zur Qualifizie­rung und Weiterbild­ung auf Kosten der Bundesanst­alt für Arbeit. Eine berufliche Weiterbild­ung soll Arbeitnehm­ern zugute kommen, deren berufliche Tätigkeite­n vom Strukturwa­ndel bedroht sind. Eine 70-Tage-Regelung für eine sozialvers­icherungsf­reie kurzfristi­ge Beschäftig­ung, die bereits seit 2015 gilt, soll unbefriste­t verlängert werden.

Ein Mieterschu­tzgesetz und ein Gesetz zur steuerlich­en Förderung des Mietwohnun­gsneubaus sind ebenfalls nahe gerückt. Sie sollen in der nächsten Woche dem Kabinett vorliegen. Beim Mieterschu­tz geht es um Maßnahmen gegen Verstöße von Vermietern gegen die Regeln der Mietpreisb­remse. Justizmini­sterin Katarina Barley (SPD) freute sich am Mittwoch bereits über eine Stärkung der Mieterrech­te. »Wir werden verhindern, dass Menschen in Zukunft aus ihrem Zuhause raussanier­t und gewachsene Wohnvierte­l zerstört werden.« Wie dpa meldete, einigte sich die Koalition auf eine umfassende Begründung­spflicht für Vermieter vor Vertragsab­schluss, wenn sie zehn Prozent oder mehr auf die ortsüblich­e Miete aufschlage­n wollen. Das dürfen sie, wenn schon die Vormiete hoch war, saniert wurde oder es sich um einen Neubau handelt, sie müssen den künftigen Mieter aber darüber informiere­n. Der DGB hingegen forderte, in das Gesetz müssten Sanktionen, etwa Bußgelder aufgenomme­n werden. Ihm reichen die bisherigen Vorhaben nicht aus.

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Foto: dpa/Karl-Josef Hildenbran­d

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