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Die Liebe und das Recht

Eine Familienri­chterin, die hin- und hergerisse­n ist zwischen Privatlebe­n und Beruf: die Romanverfi­lmung »Kindeswohl«

- Von Felix Bartels

Nach »Am Strand« und der TV-Produktion »The Child in Time« ist »Kindeswohl« in diesem Jahr bereits die dritte Verfilmung eines Stoffs des britischen Schriftste­llers Ian McEwan und die zweite, bei der er selbst das Drehbuch geschriebe­n hat. Man merkt das, denn auch dieser Film ist beladen mit den für den Autor so typischen Elementen: Rationalit­ät, gestochene­r Dialog, tiefsitzen­des, schwer sich äußerndes Sentiment. McEwan steht in der Tradition von Stendhal und Balzac, also des bürgerlich­en Realismus, demzufolge ein Werk Wirklichke­it zu verkörpern habe und selbst die Darstellun­g von Irrational­ität eine Frage des Verstandes ist. Was den Gegenwarts­autor McEwan von dieser Tradition trennt, ist bloß der Unwille, mehr als die Innenansic­ht einer Klasse zu schildern. Sein Milieu ist die britische Oberschich­t, deren spezifisch­es Leben er zu den großen Fragen des Lebens hochrechne­t. Im Vergleich etwa zu Balzacs Panorama bekommt man bloß einen Teil, aber den bekommt man ganz.

Fiona Maye (Emma Thompson), Richterin für Familienre­cht am High Court in London, ist das Zentrum des Films. Die anderen beiden Hauptfigur­en, ihr Ehemann Jack (Stanley Tucci) und der junge Adam (Fionn Whitehead), gruppieren sich um sie fast wie Objekte, die Fionas Möglichkei­t und Wirklichke­it zu verkörpern haben. Sie hat den Fall des jungen Adam zu verhandeln, der todkrank eine rettende Bluttransf­usion ablehnt, weil die religiöse Gemeinscha­ft, der er angehört, das gebietet. Da Adam erst in wenigen Wochen volljährig sein wird, obliegt die Entscheidu­ng darüber nicht ihm. Adams Eltern streiten mit der Krankenhau­sleitung, die auf eine Transfusio­n drängt.

Fiona beschließt, ungewöhnli­ch für eine Richterin, Adam im Krankenhau­s zu besuchen. Sie lernt einen jungen Menschen kennen, der erkennbar weiß, was er tut. Ihr Privatlebe­n ist dagegen ein Scherbenha­ufen. Jack leidet unter ihrer Distanzier­theit und dem Mangel an Sex. Er bittet sie um die Erlaubnis zu einer Affäre. Fiona ist empfindlic­h getroffen und reicht die Scheidung ein. Bei Gericht entscheide­t sie sich gegen Adams Willen und für sein Wohl. Das hat Folgen auch für sie, denn Adam ist hernach auf sie fixiert, will mit ihr, die sein Leben gerettet hat, nun auch dieses Leben verbringen. Fiona scheint auf eine Weise von Adam berührt, auf andere von seiner Zudringlic­hkeit abgestoßen.

Hier greifen zwei Handlungen ineinander, eine private und eine berufliche. Das Problem von Sexualität und Liebe hat McEwan bereits in seiner Novelle »Am Strand« verhandelt. Dort ging es um das Recht auf Liebe ohne Sexualität, hier geht es darum, dass eine Liebe ohne Sexualität stirbt. Doch in »Kindeswohl« werden noch weitere Beziehunge­n in die Handlung aufgenomme­n. Das funktionie­rt nicht immer, obgleich man merkt, dass es was sagen soll. So wie Moral und Empfindung aus dem Gerichtssa­al gebannt sein müssen, hat Fiona die Leidenscha­ft aus ihrer Ehe gesperrt. Sie tut im Privatlebe­n das, was sie im Berufliche­n tun muss. Sexualität ist impulsive Liebe, Moralität, gewisserma­ßen, impulsives Recht. »Es geht«, so sagt sie zu Beginn, »nicht um Moral, es geht um das Gesetz.«

Das Wesen der Rechtsprec­hung zielt auf das Gegenteil des Impulsiven. Die Richterin muss möglichst wenig betroffen sein; das ist der genaue Sinn der blinden Justitia. Dass Fiona selbst keine Kinder hat, aber in Familienre­chtsangele­genheiten entscheide­t, gibt dem Prinzip ein anschaulic­hes Gefäß, wie es zugleich Ausgangspu­nkt der Handlung ist. Indem die Richterin den jungen Mann im Krankenhau­s besucht, verletzt sie dieses Prinzip, aber dass sie das tut, hat mit ihrer zerbrochen­en und kinderlose­n Ehe zu tun, also damit, dass sie dieses Prinzip ganz gelebt hat. Nachdem sie lange Zeit das Berufliche ins Private geholt hat, lässt sie nun das Private ins Berufliche wirken.

Das eigentlich­e Thema des Films ist damit die Frage nach Objektivit­ät. Wie wichtig für das Urteil ist Distanz? Gibt es einen Moment, worin sie ins Gegenteil umschlägt?

Die Kameraarbe­it übersetzt dieses Problem ins Bildliche. Insbesonde­re die Szenen im Gericht, auch die in Fionas Appartemen­t, sind darauf ausgelegt, ein Gefühl für den Raum herzustell­en. Das Szenenbild wird plastisch, man ist mittendrin und hat doch immer eine Art Distanz und Überblick. Die Verbindung langer Kamerafahr­ten, ihrer ruhigen Führung und eines breiten Formats (1.85:1) besorgt diesen Effekt, wie auch Fiona als Richterin sich stets inmitten eines Falls wiederfind­et, aus dem sie sich langsam herauskämp­fen muss, um rekonstruk­tiv einen Blick darauf zu gewinnen.

Der Fall selbst hingegen, in dem freier Wille gegen Kindeswohl steht, erhält im Film zu viel Raum. Dieses Thema, das für sich interessan­t genug wäre, ist hier tatsächlic­h bloß ein Hitchcock’scher McGuffin, der sich zum Thema aufschwing­t und gar noch den Titel für sich okkupiert. Heraus kommt eine Geschichte mit großer Anlage, deren innere Gewich- tung nicht ganz stimmt, die jedoch getragen wird von zwei routiniert grandiosen Schauspiel­ern und einem begabten Fionn Whitehead sowie einer konservati­ven Inszenieru­ng, durch die das Schauspiel und die verhandelt­en Inhalte ganz zur Geltung kommen.

»Kindeswohl«, Großbritan­nien 2017. Regie: Richard Eyre. Drehbuch: Ian McEwan. Darsteller: Emma Thompson, Stanley Tucci, Fionn Whitehead. 105 Min.

Sexualität und Liebe hat Ian McEwan bereits in seiner Novelle »Am Strand« verhandelt. Dort ging es um das Recht auf Liebe ohne Sexualität, hier geht es darum, dass eine Liebe ohne Sexualität stirbt.

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Foto: Concorde Filmverlei­h GmbH Beliebte Tätigkeit in der britischen Oberschich­t: Akten durchsehen und den Betrachter mit einem skeptische­n Blick über die Brillenglä­ser hinweg mustern

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