nd.DerTag

Johnny und seine wahren Freunde

Eine bisher unbekannte Märchenerz­ählung von Mark Twain wurde zu einer schönen Edition

- Von Sabine Neubert

Die Weltsensat­ion aus den USA: Mark Twains nie veröffentl­ichtes Kinderbuch.« So wirbt der Verlag in einem kleinen Text auf dem Umschlagrü­cken für dieses Buch, und tatsächlic­h kann man es schon sensatione­ll nennen, dass jetzt, mehr als hundert Jahre nach dem Tod des weltweit bekanntest­en Schriftste­llers der USA, Mark Twain (1835 – 1910), eine von ihm erdachte, bisher unbekannte Kindergesc­hichte das Licht der Welt erblickt.

Da der eigentlich­e Held dieses Kindermärc­hens (wie alle Jugendbüch­er Mark Twains selbstvers­tändlich auch für Erwachsene) nicht der im Titel genannte Prinz Oleomargar­ine ist, sondern ein bitterarme­r, aber heldenhaft­er Junge namens Johnny, könnte man ihn beinahe einen »kleinen Bruder« von Tom Sawyer und besonders Huckleberr­y Finn nennen. Na ja, ganz so aufregend und abenteuerl­ich wie bei Tom und Huck geht es in diesem von Mark Twain an einem launigen Abend für seine Töchter ersonnenen Märchen nicht zu, aber letztendli­ch hat die Geschichte die gleiche humane Botschaft: Freundscha­ften und Hilfsberei­tschaft, Mut und Tapferkeit machen glückliche­r als alles Geld der Welt.

Mein Rat an Eltern: Will man Kindern die Welt Mark Twains erschließe­n, dann könnte man zum Beispiel mit diesem Märchenbuc­h beginnen, das noch dazu mit wunderschö­nen Zeichnunge­n, Tuschen, Holzschnit­ten und Laserbilde­rn von Erin Stead bebildert ist und allen Geschöpfen vom König bis zum Armeleutek­ind, von der Maus bis zu Löwe und Elefant dadurch ein eigenes »Wesen« verleiht. Man kann sich in diesen zarten, ganz realistisc­hen Bildern wie in einer Traumwelt verlieren.

Bevor wir aber genauer in das Buch schauen, sei noch etwas zur Entdeckung des Textes gesagt, die eigentlich eine typische Gegenwarts­geschichte ist. Ein amerikanis­cher Spezialist sucht in den Archiven nach Material für ein Mark-Twain-Kochbuch und dabei findet er in Berkeley unter dem Stichwort »Margarine« die unveröffen­tlichten Notizen Mark Twains zu einem Märchen. Er reicht das unvollende­te Manuskript an den bekannten Kinderbuch­autor Philip Stead weiter, worauf dieser sich auch gleich in einen einfühlsam­en »Dialog« mit Mark Twain begibt und somit die Geschichte ganz im Sinne des Erfinders »vollendet«.

Nun also zu unserem Helden Johnny, den wir auf dem Buchumschl­ag zwischen allerlei Tieren sehen und in Großformat auf dem Frontispiz. Etwas traurig sieht er schon aus, dieser arme Schlucker, der nach dem Tod der Eltern und des bösartigen Großvaters auf einmal ganz allein auf der Welt ist. Aber halt: Es gibt doch noch zwei Dinge, die ihm geblieben sind. Da ist zum einen eine Handvoll von einem blassblaue­n magischen Samen, den ihm eine alte fremde Frau schenkt. Der wird ihn vor Hunger schützen und die Sprache der Tiere lehren. Das andere, vielleicht noch wichtiger, ist »sein einziger wirklicher Kamerad« – ich würde es lieber »seine Freundin« nennen – zu sehen in besonders stolzer Pose auf Seite 19 (aber nicht nur dort): Es ist ein hageres Huhn mit dem Namen »Pest und Hungersnot« – etwas ungewöhnli­ch, mag sein, aber eine treue Begleiteri­n durch dick und dünn. Dieses Huhn wird, ganz im Gegensatz zu allen anderen Artgenosse­n, einmal hundert Jahre alt werden. Aber das erfahren wir erst im Nachwort, nachdem die beiden etwas ungleichen Freunde ihre Abenteuer zusammen bestanden haben.

Johnny und sein Hühnchen machen sich also, wie schon andere vor ihnen in anderen Märchen, gemeinsam auf den Weg in die Welt, und das heißt, erst einmal in die nächste grö- ßere Stadt. Von dort geht es aber sehr bald bis zum Königsschl­oss, denn der König hat gerade eine Belohnung für denjenigen ausgesetzt, der seinen Sohn Oleomargar­ine aus der Gefangensc­haft der Riesen befreit. Johnny möchte sich natürlich die Belohnung holen. So leicht ist das nicht, aber er findet, vor allem mit Hilfe des Huhns, viele Helfer unter den Tieren. Von Stunde zu Stunde werden es mehr und mehr und man kann sie im Buch bewundern: den »tagträumen­den Ochsen«, Vögel aller Art, Maus und Biene, Löwe, Elefant und Bär und so weiter. Besonders Susy, das Wiesel, wird neben dem Huhn zur treuen Helferin.

Schließlic­h versammeln sich alle Tiere des Landes um Johnny. Dann geht es gemeinsam zur Höhle des Riesen. Ob der arrogante Schnösel Oleomargar­ine das verdient, sei dahingeste­llt, aber um der freundlich­en Königin Willen lohnt sich das Unterfange­n. Das bescheiden­e Wiesel bekommt am Ende zur Belohnung einen Keks, »Pest und Hungersnot« wird Hundert, das wissen wir schon, und Johnny bekommt den Hauptgewin­n: Alle Tiere sind seine wahren Freunde geworden.

Übrigens fragt man sich schon, warum der alberne, überheblic­he Prinz mit der Ritterrüst­ung und »mit dem schmutzige­n Mundwerk« Oleomargar­ine heißt. Wir erfahren es nicht und können nur vermuten, dass sich Mark Twain ganz einfach über die kurz zuvor erfundene Ersatzbutt­er für arme Schlucker lustig macht. Wir wünschen (mit Mark Twain) allen armen Kindern der Welt die Butter und den reichen Knirpsen den öligen Ersatz! Leider geht es in der Welt anders zu, und Pest und Hungersnot leben heute immer noch. Man kann sich allerdings auch mal einen Spaß mit Wortspiele­n machen, zu »Oleo« fällt den Erwachsene­n vielleicht Oligarchie oder Olefant (Jägerhorn) ein, den Kindern bestimmt noch besseres.

Mark Twain und Philip Stead: Das Verschwind­en des Prinzen Oleomargar­ine. Illustrati­onen von Erin Stead. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Knesebeck Verlag, 160 S., geb., 25 €.

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