Ein neues Wir
Mario Neumann vom »We’ll come United«-Netzwerk über die antirassistische Parade am 29. September in Hamburg
In den vergangenen Tagen hat in Chemnitz ein rassistischer Mob gewütet, die Polizei hatte die Lage nicht unter Kontrolle. Was bedeutet das für Migrant*innen und Geflüchtete in Deutschland? Chemnitz schockiert, aber darf eigentlich niemanden überraschen. Man denke etwa an Heidenau oder Freital oder auch den NSU. Der Mob wütet nicht seit ein paar Tagen, sondern seit Jahrzehnten – aber mit unterschiedlichen Konjunkturen und am liebsten in Sachsen. Gegenwärtig erleben wir eine neue Welle des Rassismus, die von einem Gefüge staatlicher Institutionen über die AfD bis zu den Nazis reicht. Für die antirassistische Bewegung bedeutet das, dass wir uns nicht auf Staat, Polizei und auch nicht auf eine ebenso empörte wie passive Zivilgesellschaft verlassen können. Die Solidarität und gemeinsame Organisierung von und mit Migrant*innen ist die Grundvoraussetzung jeder wirksamen antifaschistischen Strategie. Sebastian Bähr. Sie wollen mit der »We’ll come-United«-Parade am 29. September in Hamburg diese Solidarität zum Ausdruck bringen. Was ist geplant? Wir planen bereits zum zweiten Mal eine politische Parade der antirassistischen Bewegungen unter dem Motto »Zusammen gegen Rassismus«. Letztes Jahr hatten wir vor der Bundestagswahl in Berlin mit 10 000 Menschen demonstriert. Dieses Jahr gehen wir in Hamburg auf die Straße und erwarten mindestens 20 000 Teilnehmer*innen. Über 300 Organisationen rufen zur Teilnahme auf. Es geht uns vor allem darum, Sichtbarkeit für die Situation und die Kämpfe von Geflüchteten herzustellen. Wir wollen ein politisches Wir schaffen, das sich nicht spalten lässt. Und das gesellschaftlich schon längst Realität ist.
Wer soll alles kommen?
Es kommen sicher viele der beeindruckendsten Menschen, die in Deutschland und in Hamburg leben. Es kommen all die, die sich nichts erzählen lassen. Alle, die sich nicht spalten lassen. Diejenigen, die täglich in den Unterkünften, auf der Ausländerbehörde oder in unterbezahlten Jobs für ihr Recht auf ein gutes Leben kämpfen. Die, die auf dem Mittelmeer retten und gerettet wurden.
Ob die »ausgehetzt«-Demo in München oder die bundesweiten »Seebrücke«-Proteste – haben Teile der Zivilgesellschaft, die bisher geschwiegen haben, nun genug vom Rechtsruck?
Ja. Sie haben genug vom Rechtsruck, aber auch von einer spezifischen Verengung der »sozialen Frage«, wie sie Teile der Linken und der Gewerkschaften häufig vorschlagen. Das globale Problem ist eben auch, dass der Kapitalismus den Menschen nahelegt, dass Solidarität, Anteilnahme und gemeinsame Kämpfe nutzlos sind, bedeutungslos. Dass wir alle ohnmächtig sind und uns um uns selber kümmern müssen, wenn wir nicht untergehen möchten. Dagegen muss jede linke Politik sich richten. Stattdessen schaute man aber lieber auf die »besorgten Bürger« der AfD.
Haben Teile der Linken sich zu sehr um die »besorgten Bürger« von rechts gekümmert?
Viele machen gerade ihre Kompromisse mit der rechten Hegemonie und legen darin einen neuen Linksnationalismus auf, der so neu nicht ist. Im Zentrum steht letztlich der Versuch, die real existierende Gesellschaft der Vielen auch von links zu hierarchisieren. Chemnitz zeigt: das ist manchmal vielleicht gut gemeint, aber gesellschaftspolitisch fatal.
Wie geht denn Sahra Wagenknecht und ihre Sammlungsbewegung aus Ihrer Sicht mit dem Thema Migration um?
Genau im Sinne einer eingeengten sozialen Frage. Man glaubt, dass die Armen und die unteren Klassen nur über ihren Egoismus ansprechbar sind, weil es ihnen schlecht geht. Anstatt nun in einer neuen politischen Bewegung den solidarischen, internationalistischen Kern jeder Klassenpolitik stark zu machen, sagt man lieber: Solidarität ist nur dann möglich, wenn man funktionierende Grenzen der Nation zieht, weil der Staat nicht für alle sorgen kann. Man erklärt alle zu Opfern und dann macht man eine Opferkonkurrenz auf. Der Horizont linker Politik wird hier nationalistisch und etatistisch verengt.
Aber kann denn der Staat für alle sorgen?
In Deutschland reden viele immer so, als wären sie selbst der Staat, als gäbe es kein politisches Denken und Handeln außerhalb staatlicher Logiken. Das ist aber nicht die Aufgabe einer internationalen Linken. Wenn Menschen kommen, stellen sie Ansprüche und kämpfen für ihre Rechte. Ich persönlich freue mich über jeden, der das in Deutschland tut.
Viele sind offenbar der Ansicht, dass sich die Interessen von wei- ßen, hier geborenen Lohnabhängigen und von Geflüchteten widersprechen. Stimmt das?
In der linken Debatte wird oft so getan, als ließen sich politische Handlungen immer nur auf materielle Interessen zurückführen. Das ist nicht nur verkürzt, sondern führt auch zu Fehlentscheidungen. Vor allem, weil man glaubt, linke Mobilisierung würde sich immer nur an den Fragen des Geldbeutels entzünden. Aber Menschen wollen auch anders leben, nicht nur weniger Miete bezahlen oder mehr verdienen. Sie wollen mit anderen zusammen eine andere Qualität des Zusammenseins haben als diese abgestumpfte Monotonie des Neoliberalismus und die Kälte der Ausländerbehörde. Deswegen gehen sie zur Willkommensinitiative, zur Kiezversammlung und zur Seebrücke. Viele Linke können sich das scheinbar nicht erklären.
Wenn man sich die Hetzjagden auf Geflüchtete in Chemnitz in Erinnerung ruft: Ist hier ein friedliches Zusammenleben noch denkbar?
Ein wie auch immer gezeigtes Verständnis mit vermeintlichen Ängsten vor »Überfremdung« hilft da sicher nicht. Überall, auch und gerade im Osten, gibt es Menschen, die sich gegen die rassistische Kälte entscheiden und organisieren. Diese Menschen muss man stärken. Und man muss allen anderen zeigen, dass sie sich dafür entscheiden dürfen. Und dass sie die Konsequenzen ihres Handelns zu tragen haben, wenn sie es nicht tun.