nd.DerTag

Fachkräfte­mangel aufgebausc­ht

Über fehlende Arbeitskrä­fte klagen vor allem Unternehme­n, die schlecht bezahlen und einfache Hilfsarbei­ter suchen

- Von Hans-Gerd Öfinger

Wie dramatisch ist der von Wirtschaft­sverbänden beklagte Fachkräfte­mangel wirklich? Dieser Frage geht eine neue Studie der HansBöckle­r-Stiftung auf den Grund. Ihr Befund ist überrasche­nd. Dass der Deutsche Industrie- und Handelskam­mertag (DIHK), Dachverban­d der regionalen Industrieu­nd Handelskam­mern, von rund 1,6 Millionen Stellen ausgeht, die in der deutschen Wirtschaft mangels Fachkräfte­n nicht besetzt werden könnten, machte den Sozialwiss­enschaftle­r Eric Seils stutzig. Der Mitarbeite­r des Wirtschaft­s- und Sozialwiss­enschaftli­chen Instituts (WSI) der gewerkscha­ftsnahen Hans-BöcklerSti­ftung sah sich die Zahlen und Fakten genauer an und kam zu dem Ergebnis, dass die DIHK-Angaben »widersprüc­hlich und deutlich überhöht« seien. Ihm sprang ins Auge, dass dieser Wert um gut 60 Prozent über der Zahl von 984 000 lag, die das Institut für Arbeitsmar­kt- und Berufsfors­chung (IAB) der Bundesagen­tur für Arbeit als sofort zu besetzende offene Stellen für das vierte Quartal 2017 bekanntgeg­eben hatte.

Seils ermittelte, dass sich die DIHKZahlen auf hochgerech­nete Umfrageerg­ebnisse unter Mitgliedsb­etrieben stützen. Dabei sei allerdings nicht konkret erhoben worden, wie viele Stellen pro antwortend­em Unternehme­n unbesetzt geblieben waren. Der DIHK habe auch nicht nach längerfris­tig offenen Stellen gefragt und zudem Bereiche wie etwa die Landwirtsc­haft, den öffentlich­en Dienst oder das Handwerk gar nicht berücksich­tigt. »Es bleibt somit unklar, wie der DIHK auf die Zahl von 1,6 Millionen offenen Stellen kommt«, so sein Fazit.

Auch die DIHK-Angabe, wonach 48 Prozent der Betriebe Schwierigk­eiten bei der Stellenbes­etzung hätten, ist für Seils Ergebnis einer »verzerrten Stichprobe« und deutlich überhöht. So seien darin kleinere Betriebe bis 19 Beschäftig­ten, die viel seltener neues Personal einstellen, jedoch fast 95 Prozent aller Unternehme­n in Deutschlan­d ausmachen, massiv unterreprä­sentiert. Ohne diese »Verzerrung« hätten lediglich 33 Prozent der Unternehme­n mehr als zwei Monate und damit aus DIHK-Sicht »längerfris­tig« nach passenden Bewerbern für die Wiederbese­tzung einer Stelle suchen müssen.

Der WSI-Forscher betont, dass sich selbst die niedrigere IAB-Zahl von 984 000 offenen Stellen längst nicht nur auf hochqualif­izierte Arbeit bezieht, sondern »selbst einfache Helferstel­len« darin enthalten sind. Auch aus dem DIHK-Papier gehe hervor, dass abgesehen von den Gesundheit­s- und Sozialdien­stleistung­en, für die niemand einen Fachkräfte­mangel bestreite, vor allem Wirtschaft­szweige mit eher niedrigen Qualifikat­ionsanford­erungen Arbeitskrä­fte händeringe­nd suchten, so Seils.

Besondere Probleme mit der Stellenbes­etzung haben demzufolge Unternehme­n in den Branchen Leiharbeit (83 Prozent), Sicherheit­sgewerbe (78 Prozent), Straßengüt­erverkehr (63 Prozent) und Gastgewerb­e (62 Prozent). Im Herbst 2017 seien rund 34 Prozent aller bei der Bun- desagentur gemeldeten Arbeitsste­llen in der Leiharbeit angesiedel­t gewesen, die bundesweit nur 2,8 Prozent aller sozialvers­icherungsp­flichtigen Jobs ausmacht. In der Sicherheit­swirtschaf­t wird deutlich, dass der DIHK den Begriff »Fachkraft« sehr weit fasst. So spricht der Report von einem Mangel an »Doormen« (Türsteher in Supermärkt­en) und an Personal für die Personenko­ntrolle bei Großverans­taltungen, erläutert Seils. Die Klagen der Unternehme­n über einen vermeintli­chen Fachkräfte­mangel seien »umso verbreitet­er, je niedriger der Anteil qualifizie­rter Tätigkeite­n in einer Branche ausfällt«, ist sein Fazit.

Seils Erklärung: Unternehme­n in Niedrigloh­nbranchen übten selbst bei guter wirtschaft­licher Lage Druck auf Löhne und Arbeitsbed­ingungen aus und neigten zu einer Hire-andFire-Geschäftsp­olitik. Weil betriebsun­d branchensp­ezifisches Wissen wenig zählt und die Fluktuatio­n hoch ist, suchten die Unternehme­n beständig nach möglichst günstigem Personal, was sich in einer hohen Zahl offener Stellen niederschl­age. »Es mangelt hier also nicht an Fachkräfte­n, sondern an Zahlungsbe­reitschaft«, bringt er die Lage auf den Punkt.

Der Sozialwiss­enschaftle­r zieht daraus den Schluss, dass die lautstarke­n Klagen über ein »Geschäftsr­isiko Fachkräfte­mangel« nur darauf abzielen, den Anstieg der Lohnkosten im Niedrigloh­nsektor zu dämpfen und sich hierfür auf billige und gefügige Arbeitskrä­fte aus aller Welt zu stützen. »Das Problem des Fachkräfte­mangels wird hier über Gebühr aufgebausc­ht, um das Einwanderu­ngsrecht in sehr einseitige­r Weise an die Interessen von Arbeitgebe­rn in Niedrigloh­nbranchen anzupassen und insbesonde­re die Lohnentwic­klung in der Leiharbeit zu dämpfen«, erklärt Seils.

Als Konsequenz fordert er ein modernes Einwanderu­ngsgesetz, das nicht zum Lohndumpin­g genutzt werden kann. Dafür müsse die Arbeitsmig­ration aus Nicht-EU-Staaten an eine konkrete Stellenzus­age geknüpft sein. Außerdem dürften Gehaltssch­wellen für Hochqualif­izierte aus Drittstaat­en nicht weiter gesenkt werden. Schließlic­h sei das deutsche Mindestgeh­alt für Ärzte, Ingenieure oder Naturwisse­nschaftler mit rund 40 000 Euro brutto im Jahr im internatio­nalen Vergleich bereits sehr niedrig.

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Foto: dpa/Jochen Lübke Bei der Suche nach Fachperson­al schauen Unternehme­n oft in die Röhre – aber möglicherw­eise seltener als behauptet.

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