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Es kommt die Zeit ...

- jam Foto: imago/Paul von Stroheim

Demokratie bedeutet Herrschaft des Volkes. Nun ja, man kann den altgriechi­schen Begriff auch anders übersetzen. Demokratie, so heißt es in einem Online-Lexikon, »ist ein politische­s Prinzip, nach dem das Volk durch freie Wahlen an der Machtausüb­ung im Staat teilhat«. Zwischen diesen beiden Definition­en (die erstere zählt zu den populären, gerne auch lautstark mit dem Ruf »Wir sind das Volk!« verstärkt) liegen Welten. Ob das Volk unmittelba­r herrscht oder nur an der Machtausüb­ung im Staat teilhat, in dem es seine Interessen an gewählte Vertreter delegiert, ist ein großer Unterschie­d.

Die Verlockung ist groß, die Volksherrs­chaft zu bevorzugen, denn wer wünscht sich nicht selbst mehr Entscheidu­ngsmacht über die Dinge, die ihn selbst betreffen bzw. von denen er sich betroffen fühlt. Nicht die Parlamente, die gewählten Abgeordnet­en sollen für die Bürger entscheide­n, sondern diese ihre Belange selbst bestimmen. Volksentsc­heide und -abstimmung­en gelten deshalb heute per se als zivilisato­rischer Fortschrit­t und sollen helfen, die Krise der parlamenta­rischen, repräsenta­tiven Demokratie zu überwinden.

Die Verteidige­r solcher Volksabsti­mmungen berufen sich gerne auf das antike Athen. Die Demokratie im alten Athen war zwar auch in einer Zeit der Krisen entstanden. Die sozialen Spannungen in der Gesellscha­ft hatten zugenommen und um sie zu mildern, sollte das Volk (nur die freien Männer!) an der Machtausüb­ung beteiligt werden. Der Zugang zum Forum der Abstimmung war jedoch nicht gleichbere­chtigt geregelt, sondern hing von der wirtschaft­lichen Stellung des männlichen Bürgers ab. Und auch schon vor zweieinhal­btausend Jahren galt: Durchgeset­zt haben sich oftmals nur die, die am lautesten schreien konnten oder jene, die sich am Besten organisier­ten, und nicht selten wurden Partikular­interessen zum Volkswille­n verklärt, siegte das populistis­che Ar- gument über das Gesetz, ließ man am Ende das Volk nur noch über unwichtige Dinge abstimmen.

Im Zeitalter der virtuellen Realität der sozialen Netzwerke ist der demokratis­che Fortschrit­t auf ähnliche Weise in bloßen Populismus umgeschlag­en. Wer schweigt, so die perfide, unausgespr­ochene Unterstell­ung, stimmt zu. Vor wenigen Tagen endete eine EU-weite Umfrage. Die EU-Kommission bat das Volk um seine Meinung zur Sommer- und Winterzeit. Sie wollte wissen, ob man künftig auf die Zeitumstel­lung verzichten soll. Man soll, meinten 84 Prozent der 4,6 Millionen, die antwortete­n, darunter 3 Millionen allein aus Deutschlan­d. Das Volk in den sozialen Netzwerken wähnt sich als Sieger. Die EU-Kommission kündigte an, dem »Volkswille­n« zu folgen. Die Volksherrs­chaft hat gesiegt! Wir sind das Volk! Wenigstens zeitweise.

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