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»Eine Hemmschwel­le gibt es nicht mehr«

Chemnitz: Dem Schultersc­hluss der Rechten folgten Übergriffe auf Journalist­en, Geflüchtet­e und Antifaschi­sten

- Von Sebastian Bähr, Chemnitz

Am Samstag standen sich in Chemnitz rund 5000 Rechtsradi­kale und 5000 Gegendemon­stranten gegenüber. Dank der Blockaden kamen die Nazis nicht weit. Dafür tobten sie sich anschließe­nd aus. Für einen Moment sieht es aus, als ob es gleich richtig eskalieren könnte. Als gegen 20 Uhr am Samstagabe­nd die Polizei in Chemnitz aufgrund von Blockaden den rechtsradi­kalen »Schweigema­rsch« auflöst, liegt blanker Hass in der Luft. Die AfD-Demospitze um Björn Höcke, thüringisc­her Chef der Rechtsauße­npartei und Wortführer des völkischen Flügels, zieht sich zurück, dafür kommen nun wütende rechtsradi­kale Hooligans nach vorne. »Widerstand«, »Lügenpress­e«- und »Wir sind das Volk« rufen sie und gehen auf Polizisten und Journalist­en los, werfen Flaschen, schlagen zu, umzingeln Wasserwerf­er und Räumpanzer. Die zügig aufgestell­te Polizeiket­te wird an mehreren Stellen von dem aufgepeits­chten Mob durchbroch­en. Viele Rechte sind mittlerwei­le vermummt.

Nur mit Mühe können Beamte, auch mit Hilfe von Reiterstaf­feln, ein weiteres Vordringen der Masse in Richtung des Ortes verhindern, wo der 35-jährige Daniel H. ermordet wurde. Auch die Gegenprote­ste werden abgedrängt. Wirkliche Kontrolle erlangt die Polizei jedoch nicht. Die Situation bleibt chaotisch und angespannt. Viele Rechte fahren nach Hause, aber einige Gruppen von Neonazis ziehen ungehinder­t durch die Straßen. Ein ARD-Kamerateam wird am Tatort angegriffe­n. Vermummte schlagen einen Geflüchtet­en, den Afghanen Saifullah Z., brutal zusammen. Nazis überfallen eine Besuchergr­uppe des SPD-Bundestags­abgeordnet­en Sören Bartol auf dem Weg zu ihrem Bus. Derweil hält die Polizei rund 250 Gegendemon­stranten mehrere Stunden in einem Kessel fest.

Nachmittag, 16 Uhr. In der Nähe des Bahnhofs haben sich rund 3500 bunt gemischte Demokraten und Antifaschi­sten zur »Herz statt Hetze«Kundgebung versammelt. Rund 70 Organisati­onen, einschließ­lich der lokalen CDU, stehen hinter dem Aufruf, verschiede­ne Bundespoli­tiker wie SPD-Vizechefin Manuela Schwesig, LINKE-Fraktionsc­hef Dietmar Bartsch und die Grünen-Vorsitzend­e Annalena Baerbock sind gekommen. Barbara Ludwig (SPD), die Oberbürger- meisterin von Chemnitz, beklagt den Mord an Daniel H. und fordert gleichzeit­ig auf, sich »mit allen Mitteln des Rechtsstaa­tes« den Hetzern entgegenzu­stellen. Rund 1500 weitere Antifaschi­sten erreichen unter Jubel und kämpferisc­hen Parolen die Versammlun­g, sie sind aus Leipzig, Dresden und anderen Städten angereist. Der eher bürgerlich­e Teil des Protestes hört den Reden und Konzerten auf der Kundgebung zu, der radikalere versucht, auf die Strecke des rechten Aufmarsche­s zu gelangen. Gruppen von Antifaschi­sten liefern sich immer wieder kleinere Auseinande­rsetzun- gen mit Neonazis und Polizisten, bald stehen zwei Blockaden mit Hunderten Menschen.

Unweit davon, am Karl-MarxDenkma­l, sammeln sich mehrere Tausend Rechtsradi­kale bei der Kundgebung der Wählervere­inigung »Pro Chemnitz«. »Heute sind wir nicht Gesinnung, Heute sind wir das Volk! Also bindet Euren rechten Arm fest!«, ruft ein Einpeitsch­er. Die angekündig­te Demonstrat­ion wird kurzerhand abgesagt, stattdesse­n zieht man zum nahe gelegenen Startpunkt des »Trauermars­ches« von AfD und Pegida. Bürgerlich­e Rechtsradi­kale sammeln sich nun mit gewaltbere­iten, betrunkene­n Hooligans, der Schultersc­hluss der rechtsradi­kalen Szene Deutschlan­ds auf der Straße ist vollzogen. Als die jetzt rund 5000 Teilnehmer losmarschi­eren, bilden AfD-Politiker um Höcke die Spitze. Alle tragen eine weiße Rose »als Zeichen der Trauer« am Jackett. Die ersten Reihen halten dazu Bilder von Opfern vermeintli­cher Migranteng­ewalt. Nach rund einem Viertel der Strecke, wieder am Marx-Monument, kommt der Zug aufgrund der Blockaden zum Stehen. Ein Mann stößt ein Kamera-Team des MDR in einem nahegelege­nem Wohnhaus die Treppe herunter, der Reporter muss ins Krankenhau­s.

Der Abend soll noch lang werden. Die Polizei meldet später 25 Straftaten, neun Verletzte und einen »relativ friedliche­n Verlauf«. Sie war mit 1800 Beamten im Einsatz. Die Einschätzu­ng fällt nicht überall so positiv aus. »Noch nie habe ich so viel Hass auf Medien erlebt wie an diesem Wochenende in Chemnitz«, sagt der ARD-Journalist Georg Restle. »Während Nazis durch die Stadt marodieren, werden Linke festgehalt­en. Das ist die politische Diktion in Sachsen«, kritisiert die sächsische LINKEN-Abgeordnet­e Juliane Nagel.

Angesichts der rechten Ausschreit­ungen der vergangene­n Tage machen sich Politiker und Aktivisten über die Ursachen der Gewalt Gedanken. Rico Gebhardt, Fraktionsv­orsitzende­r der sächsische­n LINKEN im Landtag, sieht einen Teil der Verantwort­ung bei der regierende­n CDU. »Die sächsische CDU hat toleriert, akzeptiert, abmoderier­t. Sie hat nicht wahrnehmen wollen, dass wir tatsächlic­h ein Problem mit Rechtsauße­n haben. Sie hat die Zivilgesel­lschaft unterdrück­t«, sagt er dem »nd«.

Thomas Hoffmann vom Sächsische­n Flüchtling­srat äußert ebenfalls Kritik. Nach 2015 seien die Angriffe auf Geflüchtet­e und Unterkünft­e rückläufig gewesen, doch die Behörden hätten es versäumt, präventiv tätig zu werden. Die Staatsregi­erung habe sich nie mit der Zivilgesel­lschaft hingesetzt, um eine Strategie zur Verhinderu­ng weiterer rassistisc­her Mobilisier­ungen zu entwickeln. Die Landesregi­erung müsse nun »das Problem mit Rechts beim Namen nennen«, antirassis­tische und antifaschi­stische Initiative­n dürften nicht mehr verfolgt werden.

Viele Engagierte sind sich einig, dass die Gefahr in Chemnitz nicht gebannt ist. »Die Menschen, die sich nun öffentlich positionie­ren und Gesicht zeigen, sind bedroht. Besonders durch die Anwesenhei­t von ›Pro Chemnitz‹ im Stadtrat und dessen Verbindung­en in die extrem rechte Szene«, sagt Robin Rottloff vom Bündnis Chemnitz Nazifrei. Thomas Hoffmann befürchtet, dass sich die Bedrohunge­n auch für Geflüchtet­e und Migranten fortsetzen werden. »Eine Hemmschwel­le für Übergriffe gibt es nicht mehr. Die Rechten suchen den Deutungska­mpf um die Stadt. Und sind bereit, diesen mit Gewalt zu führen.«

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Foto: imago/Michael Trammer Ein Journalist ergreift die Flucht vor rechten Schlägern.

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