Der Luxus der Leere
Über die Altmark im Sommer und den Verbleib der Träume
Die Geschichte Ostdeutschlands nach der Wende ist amtlich eine Erfolgsgeschichte. Der Besucher aus dem Westen, wählt er nicht die touristischen Erfolgsregionen, kommt allerdings ins Grübeln. Kalbe an der Milde liegt gut 600 Kilometer von München entfernt in der Altmark, im Norden von Sachsen-Anhalt. Die Region ist geprägt von Landwirtschaft und dünn besiedelt, zu DDR-Zeiten war das Grenzgebiet zur Bundesrepublik nicht zugänglich. Hier bilden wuchtige romanische Kirchen die Ortskerne und im Osten fließt die Elbe vorbei, gesäumt von Hansestädten wie Tangermünde, Stendal oder Havelberg.
Kalbe an der Milde ist eine Kleinstadt mit rund 7000 Einwohnern, einer Burgruine, einem Sanatorium und – so die Eigenwerbung – 100 Brücken über die Milde, freilich oft nur Zufahrten aus Beton. An der Tankstelle bei der Straßenkreuzung treffen sich abends die Jugendlichen, und draußen an Ortsrand weist ein Wegweiser auf den ehemaligen Standort von »Goliath« hin, einem Längstwellensender der Marine im Zweiten Weltkrieg. Heute ist längst Gras über die Gebäudereste gewachsen.
Das war die Zeit des Alptraums, der über Deutschland und Europa herrschte. Hier aber soll von Träumen die Rede sein, man könnte auch sagen Utopien, die durch die Altmark gegangen sind. Der eine Traum begann im Jahr 1949. Und wer die DDR nicht auf den Begriff des »Unrechtstaates« oder einer »Fußnote der Geschichte« (so der vor vier Jahren verstorbene Historiker Hans-Ulrich Wehler) zusammengeschrumpft sehen will, könnte das emanzipatorische Erbe der Arbeiterbewegung nennen. Zum Beispiel, was die Gleichstellung der Frau oder die Bildungspolitik betraf.
Aber wie immer die Erinnerung an diese Zeit auch ist, so scheint diese hier weitgehend getilgt, wie aus der Geschichte genommen. Die Gegenwart stellt sich dar wie eine Dame ohne Unterleib, als fehlte ein Stück des Weges, als habe man einige Seiten ausradiert. An diese Zeit erinnern zwar noch die Straßennahmen (»Ernst-Thälmann-Straße«) und in Kalbe das Kulturhaus (es ist bis auf die Stadtbibliothek geschlossen), aber sie wirken irgendwie nicht mit der Gegenwart verbunden. Dieses merkwürdige, weil unbenannte Verhältnis zur Vergangenheit wird in einem »Ostprodukte-Laden« in Tangermünde deutlich, in dem es »Sandmännchen« oder ein »Held-der-ArbeitSet« (Flaschenöffner, Zollstock, Duschbad, 25,90 Euro) zu kaufen gibt. Der Laden scheint der einzige Ort zu sein, wo noch von der DDR die Rede ist.
Und dann ist da der Traum aus dem Jahr 1989, der kurz darauf zu einem Trauma wurde, wo zur Frei- heit der Wohlstand kam und dann die Nation und schließlich die Marktwirtschaft. Der Traum hat sich in Kalbe in Form der Supermärkte an den Ausfallstraßen realisiert, und vor allem in den blitzblank renovierten und restaurierten Dächern und Fassaden der Gebäude. Bis auf ein paar unrenovierte und hässliche Entlein erscheinen die meisten Häuser in der Altmark wie von einem Zauberstab der Marktwirtschaft berührt und mit leuchtenden Farben überzogen. Da dies ein generelles Prinzip, quasi ohne Ausnahmen zu sein scheint, wirken die Dörfer und Städte manchmal wie aus dem Wunderland.
Störend sind dabei nur die vielen Hinweise auf Abwanderungen, die diversen Angebote »Zu verkaufen« oder »Zu vermieten«. Der Mangel an industriellen Arbeitsplätzen in der Region lässt die Menschen weggehen. Und der Traum hat auch noch andere Spuren hinterlassen, die heute zu Ruinen gewordenen ehemaligen Betriebe, die im Jahr 1991 von der Treuhand stillgelegt wurden.
Geht man durch Kalbe und fährt man durch die Altmark, dann macht sich das Gefühl einer Schieflage breit. Als fehle all den renovierten Fassaden und den neu gebauten Landstraßen das soziale Hinterland. Es fällt auf, dass Kneipen und
Am Verschwinden sind auch die Kinder. In dem Straßendorf Sanne, acht Kilometer nordöstlich von Stendal, verkaufen sie derzeit die ehemalige Grundschule.
Gaststätten geschlossen sind und die Bahnhöfe ohne Funktion. Der Küster der St. Marienkirche in Gardelegen sagt, der soziale Zusammenhalt, wie er ihn von früher her kenne, sei am Verschwinden.
Am Verschwinden sind auch die Kinder. Jedenfalls in dem Straßendorf Sanne, acht Kilometer nordöstlich von Stendal. Dort verkaufen sie die ehemalige Grundschule. Es ist ein großes Gebäude, das 1968 erbaut wurde. Für 50 000 Euro. Dafür bekommt man in München gerade mal einen Tiefgaragenplatz. Und das sind dann so Dinge, an denen die Träume der Wessis hängen bleiben. Was könnte man mit so einer leeren Schule alles anfangen? Eine Kommune gründen, Kunst machen, leben, ohne dem gnadenlosen Räderwerk der Vermarktungslogik ausgeliefert zu sein? »Luxus der Leere« heißt übrigens ein regionales Projekt in der Altmark, das rund 1000 leer stehende Gebäude auflistet.
So ziehen die Wolken und Träume dahin am Himmel über der Altmark, während die Elbe wegen der Hitzeperiode dieses Sommers wenig Wasser führt.