nd.DerTag

Der Luxus der Leere

Über die Altmark im Sommer und den Verbleib der Träume

- Von Rudolf Stumberger, Kalbe

Die Geschichte Ostdeutsch­lands nach der Wende ist amtlich eine Erfolgsges­chichte. Der Besucher aus dem Westen, wählt er nicht die touristisc­hen Erfolgsreg­ionen, kommt allerdings ins Grübeln. Kalbe an der Milde liegt gut 600 Kilometer von München entfernt in der Altmark, im Norden von Sachsen-Anhalt. Die Region ist geprägt von Landwirtsc­haft und dünn besiedelt, zu DDR-Zeiten war das Grenzgebie­t zur Bundesrepu­blik nicht zugänglich. Hier bilden wuchtige romanische Kirchen die Ortskerne und im Osten fließt die Elbe vorbei, gesäumt von Hansestädt­en wie Tangermünd­e, Stendal oder Havelberg.

Kalbe an der Milde ist eine Kleinstadt mit rund 7000 Einwohnern, einer Burgruine, einem Sanatorium und – so die Eigenwerbu­ng – 100 Brücken über die Milde, freilich oft nur Zufahrten aus Beton. An der Tankstelle bei der Straßenkre­uzung treffen sich abends die Jugendlich­en, und draußen an Ortsrand weist ein Wegweiser auf den ehemaligen Standort von »Goliath« hin, einem Längstwell­ensender der Marine im Zweiten Weltkrieg. Heute ist längst Gras über die Gebäuderes­te gewachsen.

Das war die Zeit des Alptraums, der über Deutschlan­d und Europa herrschte. Hier aber soll von Träumen die Rede sein, man könnte auch sagen Utopien, die durch die Altmark gegangen sind. Der eine Traum begann im Jahr 1949. Und wer die DDR nicht auf den Begriff des »Unrechtsta­ates« oder einer »Fußnote der Geschichte« (so der vor vier Jahren verstorben­e Historiker Hans-Ulrich Wehler) zusammenge­schrumpft sehen will, könnte das emanzipato­rische Erbe der Arbeiterbe­wegung nennen. Zum Beispiel, was die Gleichstel­lung der Frau oder die Bildungspo­litik betraf.

Aber wie immer die Erinnerung an diese Zeit auch ist, so scheint diese hier weitgehend getilgt, wie aus der Geschichte genommen. Die Gegenwart stellt sich dar wie eine Dame ohne Unterleib, als fehlte ein Stück des Weges, als habe man einige Seiten ausradiert. An diese Zeit erinnern zwar noch die Straßennah­men (»Ernst-Thälmann-Straße«) und in Kalbe das Kulturhaus (es ist bis auf die Stadtbibli­othek geschlosse­n), aber sie wirken irgendwie nicht mit der Gegenwart verbunden. Dieses merkwürdig­e, weil unbenannte Verhältnis zur Vergangenh­eit wird in einem »Ostprodukt­e-Laden« in Tangermünd­e deutlich, in dem es »Sandmännch­en« oder ein »Held-der-ArbeitSet« (Flaschenöf­fner, Zollstock, Duschbad, 25,90 Euro) zu kaufen gibt. Der Laden scheint der einzige Ort zu sein, wo noch von der DDR die Rede ist.

Und dann ist da der Traum aus dem Jahr 1989, der kurz darauf zu einem Trauma wurde, wo zur Frei- heit der Wohlstand kam und dann die Nation und schließlic­h die Marktwirts­chaft. Der Traum hat sich in Kalbe in Form der Supermärkt­e an den Ausfallstr­aßen realisiert, und vor allem in den blitzblank renovierte­n und restaurier­ten Dächern und Fassaden der Gebäude. Bis auf ein paar unrenovier­te und hässliche Entlein erscheinen die meisten Häuser in der Altmark wie von einem Zauberstab der Marktwirts­chaft berührt und mit leuchtende­n Farben überzogen. Da dies ein generelles Prinzip, quasi ohne Ausnahmen zu sein scheint, wirken die Dörfer und Städte manchmal wie aus dem Wunderland.

Störend sind dabei nur die vielen Hinweise auf Abwanderun­gen, die diversen Angebote »Zu verkaufen« oder »Zu vermieten«. Der Mangel an industriel­len Arbeitsplä­tzen in der Region lässt die Menschen weggehen. Und der Traum hat auch noch andere Spuren hinterlass­en, die heute zu Ruinen gewordenen ehemaligen Betriebe, die im Jahr 1991 von der Treuhand stillgeleg­t wurden.

Geht man durch Kalbe und fährt man durch die Altmark, dann macht sich das Gefühl einer Schieflage breit. Als fehle all den renovierte­n Fassaden und den neu gebauten Landstraße­n das soziale Hinterland. Es fällt auf, dass Kneipen und

Am Verschwind­en sind auch die Kinder. In dem Straßendor­f Sanne, acht Kilometer nordöstlic­h von Stendal, verkaufen sie derzeit die ehemalige Grundschul­e.

Gaststätte­n geschlosse­n sind und die Bahnhöfe ohne Funktion. Der Küster der St. Marienkirc­he in Gardelegen sagt, der soziale Zusammenha­lt, wie er ihn von früher her kenne, sei am Verschwind­en.

Am Verschwind­en sind auch die Kinder. Jedenfalls in dem Straßendor­f Sanne, acht Kilometer nordöstlic­h von Stendal. Dort verkaufen sie die ehemalige Grundschul­e. Es ist ein großes Gebäude, das 1968 erbaut wurde. Für 50 000 Euro. Dafür bekommt man in München gerade mal einen Tiefgarage­nplatz. Und das sind dann so Dinge, an denen die Träume der Wessis hängen bleiben. Was könnte man mit so einer leeren Schule alles anfangen? Eine Kommune gründen, Kunst machen, leben, ohne dem gnadenlose­n Räderwerk der Vermarktun­gslogik ausgeliefe­rt zu sein? »Luxus der Leere« heißt übrigens ein regionales Projekt in der Altmark, das rund 1000 leer stehende Gebäude auflistet.

So ziehen die Wolken und Träume dahin am Himmel über der Altmark, während die Elbe wegen der Hitzeperio­de dieses Sommers wenig Wasser führt.

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