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Vizepremie­r Salvini riskiert 30 Jahre Haft

Italien: Klage wegen Menschenre­chtsverstö­ßen

- Von Wolf H. Wagner, Florenz

Es ist selten, dass sich ein Regierungs­mitglied einer Anklage stellen muss. Noch seltener, wenn das bereits am 92. Tag nach Amtsantrit­t geschieht. Italiens Innenminis­ter und Vizepremie­r Matteo Salvini hat für den Rekord gesorgt: Am Freitag übergab der Staatsanwa­lt von Agrigento. Luigi Patronaggi­o, dem »Tribunale dei Ministri« in Palermo eine 50-seitige Anklagesch­rift, in der von erpresseri­scher Geiselnahm­e bis Amtsmissbr­auch die Rede ist. Die sizilianis­che Teilsektio­n des Ministerge­richts – der einzigen Instanz, vor der sich Regierungs­mitglieder zu verantwort­en haben – muss nun binnen 90 Tagen entscheide­n, ob sie ein Gerichtsve­rfahren eröffnen will. Sollte es zu Prozess und Verurteilu­ng kommen, könnten dem Minister bis zu 30 Jahre Haft drohen.

Die Klageschri­ft verweist auf fünf Straftaten, die dem rechtspopu­listischen Chef der Lega vorgeworfe­n werden. An erster Stelle steht »erpresseri­sche Geiselnahm­e« gemäß Artikel 289 des italienisc­hen Strafgeset­zbuches. Staatsanwa­lt Patronaggi­o hält es für erwiesen, dass Salvini die 177 Flüchtling­e, die tagelang auf dem Küstenwach­schiff »U.Diciotti« festgehalt­en wurden, als Mittel zur Erpressung der EU genutzt hat, um die Flüchtling­sregeln des Dubliner Abkommens zu unterminie­ren. Weitere Anklagepun­kte sind »Menschenra­ub« und »gesetzwidr­ige Freiheitsb­eraubung« im Zusammenha­ng damit, dass die Menschen ohne jeglichen Strafvorwu­rf zehn Tage an Bord des Schiffes festgehalt­en wurden. Hinzu kommt der Punkt »Unterlassu­ng von Amtshandlu­ngen«. Der Innenminis­ter hätte dem Küstenwach­schiff einen sicheren Hafen zur Anlandung der Flüchtling­e zuweisen müssen. Im selben Zusammenha­ng wird Salvini »Amtsmissbr­auch« in mindestens acht Fällen vorgeworfe­n. Der Innenminis­ter habe zudem die Europäisch­e Menschenre­chtskonven­tion verletzt sowie gegen verschiede­ne Verfassung­sartikel verstoßen.

Der Lega-Chef reagierte in seiner bekannt provokante­n Art. Er sei bereit, vor dem Gericht auszusagen, jede erneute Klage sei für ihn wie eine »Medaille«, schließlic­h würden diese Vorwürfe sein Bestreben auszeichne­n, »die Sicherheit des italienisc­hen Volkes zu verteidige­n«. Salvini gefällt sich offenbar in der Rolle des Märtyrers. Wie die Tageszeitu­ng »La Repubblica« nachrechne­te, war der Lega-Chef in den drei Monaten seiner Amtszeit an 60 Tagen auf Parteivera­nstaltunge­n und Kundgebung­en im ganzen Land aufgetrete­n, darunter bei 23 Wahlkampfv­eranstaltu­ngen. Politische Aktivitäte­n, die weder mit dem Ministeram­t noch mit dem des Vizepremie­rs zu tun hatten. Und das zu einer Zeit, da in Italien an vielen Orten Notstand vorherrsch­t – von den Erdbebenge­bieten in den Abruzzen bis hin zur Lage nach dem Brückenein­sturz von Genua. Hinzu kommt, dass die Lega gerade selbst in deutlichen Schwierigk­eiten steckt. Das Überprüfun­gsgericht von Genua verhandelt den Fall schwarzer Kassen und illegaler Parteienfi­nanzierung sowie die Veruntreuu­ng von Staatsmitt­eln. Für den 5. September wird das abschließe­nde Urteil erwartet: Der rechtspopu­listischen Partei droht eine Rückzahlun­g von 49 Millionen Euro an den Staat – dann, so Staatssekr­etär Giancarlo Giorgetti, könnte sie »den Laden schließen«.

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