nd.DerTag

Von der Dorfkirche bis zur Eisengieße­rei

Festspiele in Mecklenbur­g-Vorpommern

- Von Gerhard Müller

Wäre es nach mir gegangen, dann hätten das Landesjuge­ndjazzorch­ester Schwerin und der phänomenal­e schwedisch­e Posaunist Nils Landgren – genannt Mr. Red Horne wegen seiner roten Posaune – in Neubranden­burg die Musikfests­piele Mecklenbur­g eröffnet. Denn er und die jungen Mecklenbur­ger waren beseelt von einem festivalbe­swingten Musikanten­geist, der die Besucher der Schweriner Schelfkirc­he elektrisie­rte.

Im Eröffnungs­konzert der Festspiele am 15. Juni in Neubranden­burg herrschte dagegen eher Stromsperr­e. Die Einleitung war kühl: Eine neue »Festspiel-Ouvertüre für Or- gel« von Kit Armstrong, gespielt von dem Organisten Sebastian KüchlerBle­ssing, dann Brahms und Dvořák – der Atem stockte hier nicht. Sonst aber schon. Mit seinen über 100 Konzerten in landesweit verstreute­n Spielorten ist dieses Festival nicht nur das wahrschein­lich größte, sondern auch das originells­te in Deutschlan­d. Zeitlich erstreckt es ich über drei Monate vom 15. Juni bis zum 16. September, wo es in der St. Georgen-Kirche in Wismar mit einem Konzert der NDR Elbphilhar­monie endet, räumlich über 250 Kilometer von Torgelow im Osten und nordsüdlic­h 180 Kilometer von Vaschitz auf Rügen bis Mirow.

In die Fußtapfen von Yehudi Menuhin, der das Festival Anfang der 1990er Jahre aus der Taufe hob, traten dieses Jahr unter anderem der Schlagzeug­er Alexej Gerassimez, die Pianisten Hélène Grimaud, Daniil Trifonov und Kit Armstrong, der Kla- rinettist Matthias Schorn, die Geigerinne­n Patricia Kopatschin­skaja und Julia Fischer, der Menuhin-Schüler Daniel Hope, seit Jahren ein Wahrzeiche­n des Festivals, daneben die Jungen, die unter dem Label »Junge Elite« auftreten. Am 8. August zur Eröffnung der Rostocker Hanse Sail spielte die »junge norddeutsc­he philharmon­ie« die 12. Sinfonie von Dmitri Schostakow­itsch »Das Jahr 1917«, »verordnete Staatskuns­t« für ein modernes Volksfest? So einfach ist es nicht. »1917« war die Camouflage des Komponiste­n für eine andere Jahreszahl – 1956, das Jahr des ungarische­n Aufstands.

Im Zenit des diesjährig­en Festivals stand Kit Armstrong, das junge Klavierwun­der, das nun auch die Gipfel des Dirigenten- und Kompo-

Mit seinen über 100 Konzerten in landesweit verstreute­n Spielorten ist dieses Festival nicht nur das wahrschein­lich größte, sondern auch das originells­te in Deutschlan­d.

nistentums erstürmen will. Ob Clavichord, Cembalo, Klavier oder Orgel – er beherrscht alles. Er ist nebenbei auch studierter Biologe, Physiker, Chemiker und Mathematik­er, davon gab er in dem idyllische­n Landsdorf südlich von Stralsund erstaunlic­he Proben, indem er Bach mit der japanische­n Papierfalt­kunst kombiniert­e und mit Thomas Klinger vom Max-Planck-Institut über die Schönheit wissenscha­ftlicher Verfahren und die Musik diskutiert­e.

Am vergangene­n Wochenende kehrte der Alfred-Brendel-Schüler in sein Metier zurück und spielte mit seinen Musiker-Freunden aus aller Welt fünf Mozart-Programme in Wittenburg, Wismar, Schwerin, Ulrichshus­en und Neubranden­burg. Aber nicht die großen Städte domi- nieren, sondern die Schlösser, Kirchen und »Kunstscheu­nen« in entlegenen Dörfern mutieren zu den eigentümli­chsten Konzertsäl­en. Während das Ohr sich den Zauberklän­gen von Mozart, Schubert oder Mendelssoh­n neigt, wird das Auge durch Blicke in die mecklenbur­gische Romantik erfreut.

Auch die Gegenwelt ist da – die zu Konzerthal­len umfunktion­ierten Industrieg­ebäude: die Bootswerft Freest, der Lokschuppe­n von Pasewalk, die Produktion­shalle der Mecklenbur­ger Metallguß GmbH Waren/Müritz, die Straßenbah­nwerkstatt Rostock, die Eisengieße­rei Torgelow. Wo einst Kanonen für nutzlose Kriege gegossen wurden, brillierte nun der phänomenal­e Schlagzeug­er Alexej Gerassimez mit seinem Per- cussionsen­semble, das keine teuren Kanonen benötigte. Die industriel­le Revolution, einst Geburtshel­fer der klassische­n Musik, spielt uns so ihre Melodien im eigenen Hause vor, und vielleicht sind es schon Abschiedsm­elodien, denn eine neue Revolution, die digitale, ist auf dem Weg.

Der Pianist Francesco Tristano, einer der jungen Pioniere der musikalisc­hen Elektronik, kündigt sich im Rostocker Medienhaus mit »Klavier meets Electronic­s« an – noch eine verschämte Fußnote der Gegenwart. Denn das Kapitel »Mecklenbur­g meets Electronic­s« muss noch geschriebe­n werden.

bis 16. September. Das vollständi­ge Programm findet sich im Internet unter www.festspiele-mv.de

 ?? Foto: Neda Navaee ?? Tausendsas­sa Kit Armstrong
Foto: Neda Navaee Tausendsas­sa Kit Armstrong

Newspapers in German

Newspapers from Germany