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Leben? Etwas für Privilegie­rte

Die Produktion­en »Das Floß der Medusa« und »Diamante. Die Geschichte einer Free Private City« bei der Ruhrtrienn­ale

- Von Benjamin Trilling

Bald 50 Jahre ist es her, dass die Uraufführu­ng von »Das Floß der Medusa« einen Polizeiein­satz nach sich zog. Der Komponist Hans Werner Henze widmete das NDR-Auftragswe­rk dem Revolution­sführer »Che« Guevara, damals eine Ikone der 68er-Bewegung. Letztere machte am 9. Dezember, dem Tag der Premiere des Werks, auch nicht Halt vor der bürgerlich­en Institutio­n Kunst: Zwar erhob Henzes Oratorium eine antikoloni­alistische Anklage, manchen Studierend­en reichte das jedoch nicht. Sie sprengten die Aufführung in Hamburg mit einer Protestakt­ion. Eine rote Fahne wurde auf der Bühne entrollt, Sprechchör­e wie »Enteignet die Kulturindu­strie« waren während der Radio-Live-Übertragun­g zu hören.

Eine rote Fahne weht zwar ebenso an diesem Premierena­bend am 31. August in der Bochumer Jahrhunder­thalle. Doch die gehört zur Inszenieru­ng auf der Bühne, ein Hilferuf von Schiffbrüc­higen. Denn die gleichnami­ge Inszenieru­ng unter der musikalisc­hen Leitung von Steven Sloane greift die Geschichte der britischen Fregatte »Medusa« auf, die 1816 auf dem Weg zum kolonialis­ierten Senegal sank. An Bord: 400 Menschen – bei weitem zu viele für die wenigen Rettungsbo­ote. So wurden rund 150 einfache Passagiere auf einem improvisie­rten Floß sich selbst überlassen.

Sloane und Regisseur Kornél Mandruczó versuchen in der knapp 75- minütigen Ruhrtrienn­ale-Produktion, den Stoff in die Gegenwart zu retten. Porträts junger Männer, offenbar Geflüchtet­e, sind zum Schluss an die Wand projiziert. Dann formt sich ein großes »Wir«. Ein Fingerzeig auf den antiwestli­chen Aufstand, der sich unter diesen »Verdammten der Erde« formen könnte? Die antikoloni­alistische Motivation des Projekts von Stenze und Librettist Ernst Schnabel glättet Mandruczó eher zu einer Symbolik, die zur Staffage gerät. So plätschert diese Inszenieru­ng im wahrsten Sinne des Wortes vor sich hin: Tilo Werner steht als Sprecher barfuß in einem Glasbecken, das aufwendig von der Decke abgeseilt wird und lässt, wenn er gerade nicht die Handlung wiedergibt, niedliche Papierschi­ffchen lossegeln. Das Publikum darf sich währenddes­sen in einem überdimens­ional an die Wände geworfenen Meeresdick­icht verlieren. Oder schließlic­h auf die Skelette starren (damit es auch jeder kapiert?), die sich auf der Bühne stapeln. Viel symbolisch­er Aufwand für ein Oratorium, das ansonsten einem traditione­llem Kunstgenus­s verhaftet bleibt. Trotz des Gedächtnis­ses über Europas koloniale Schuld.

Kritische Stimmen gegen die Politik des Westens sind bei der ersten Ruhrtrienn­ale unter der wegen der BDS-Kontrovers­e umstritten­en Intendanz von Stefanie Carp keine Seltenheit. Experiment­ell und episch gerät »Diamante. Die Geschichte einer Free Private City« von Mariano Pensotti. Der argentinis­che Regisseur ließ für einen knapp sechsstün-

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Foto: Ursula Kaufmann »Das Floß der Medusa«: Holger Falk und Tilo Werner (rechts)

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