Pessimismus mit Methode
Vor hundert Jahren erschien Oswald Spenglers »Der Untergang des Abendlandes«
Es war ein Ritual, das Hermann Hesse alle paar Jahre in seiner Bibliothek vollführte. Er ging jeweils mit einem Arm voller Bücher auf den kleinen Balkon der Casa Camuzzi in Montagnola im Tessin, legte sie auf der Brüstung ab und schlug sie paarweise aneinander, um sie vom Staub zu reinigen: »Dabei hielt ich einmal zwei dicke, schwere Bände in Großoktav in den Händen, klopfte sie zärtlich gegeneinander und sah den Staub von ihnen wehen, und einen Augenblick aus der Vertrottelung meiner mechanischen Arbeit erwachend, betrachtete ich die Rückentitel der Bände, es war Oswald Spenglers ›Untergang des Abendlandes‹«. Hesse findet es selbst kurios, wie »ich hier das berühmte Untergangsbuch zärtlich vom Staub befreie«. Das war 1931, Spenglers voluminöses Werk erschien ihm da schon wie aus einer weit zurückliegenden Zeit stammend.
Spengler, das bemerkt Hesse sofort, ist ein ausdrucksstarker Außenseiter, einer mit einem eigenen Ton, der keiner Partei außer seiner eigenen angehört. »Der Untergang des Abendlandes« erscheint im September 1918, kurz vor Kriegsende, das auch zum Ende der Monarchie wird. Das Signalwort heißt »Untergang«. Aber es ist keine Kampfschrift, sondern eines der eigenbrötlerischsten Bücher des frühen 20. Jahrhunderts. Spengler schreibt Gedankendichtung wie etwa Georg Simmel in seiner »Philosophie des Geldes« (erschienen 1900) oder Graf Hermann Keyserling in seinem »Reisetagebuch eines Philosophen« (1919). Noch anders gesagt, Spengler ist der Peter Sloterdijk von vor hundert Jahren. Geistreich weite Umwege laufend, wo der Zeitgeist schnelle Antworten will. Der Erfolg dieser Spenglerschen Privatmythologie verdankt sich zweifellos dem Titel, der die Untergangs-Stimmung des Jahres 1918 trifft.
Hermann Hesse, ein passionierter Leser mit sicherem Instinkt, liest nicht nur Spenglers Skandalbuch, er schreibt auch darüber. Irgendwie mag er den seltsamen Kauz: »Über diesen Autor wird von fast allen übrigen Literaten des Landes so wild und heftig geschimpft, daß man ihn schon wie- der liebgewinnt. Und in der Tat ist sein Buch das gescheiteste, geistvollste der letzten Jahre.« Gewiss, Spengler sei ein »rabiater Preuße« und er besitze noch einen großen Fehler: »Mangel an Humor und Elastizität«. Jedoch welch überfälliger Bruch mit der ungenießbar-staubigen Professorenprosa!
Der erste Band von »Der Untergang des Abendlandes« (der zweite erscheint erst 1922) hebt an: »In diesem Buch wird zum ersten Mal der Versuch unternommen, Geschichte vorauszubestimmen... Gibt es eine Logik der Geschichte?« Der einflussreiche westdeutsche Positivist Karl Popper, für den das allein Faktische zählte, wusste vierzig Jahre später dagegen einzuwenden, Spengler verfolge genau denselben Ansatz wie die Hegel-Marxsche Geschichtsphilosophie, beide suchten sie nach Gesetzmäßigkeiten der Geschichte. Für Popper waren Spengler und Marx ungefähr dasselbe: Geschichtsmetaphysiker, im Grunde moderne Scholastiker.
Diese einflussreiche Position sollte man nicht übersehen, wenn man Spengler heute gern reflexartig als einen Vorläufer des Faschismus hinstellt. Ein radikaler Nationalist nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg war er gewiss, wie auch Ernst Jünger – oder Thomas Mann mit seinen »Betrachtungen eines Unpolitischen« (die den Zorn seines Bruders Heinrich erregten). Aber Ernst Jünger schrieb dann 1939 seine Abrechnung mit Hitler »Auf Marmorklippen« und gehörte mit der Programmschrift »Der Friede« zum Umfeld der Hitler-Attentäter um Stauffenberg. Thomas Mann korrigierte sich gründlich – bis hin zum »Doktor Faustus«. Gottfried Benn, ein großer Bewunderer Spenglers und »Poet des Spenglerschen Lebensgefühls«, der 1933/34 immerhin bereit war, den Nazis zu folgen (bis er dann 1938 selbst zum verbotenen Autor wurde), schrieb 1942 mit »Kunst und Drittes Reich« einen Text, der ihm den Kopf gekostet hätte, wäre er entdeckt worden.
Oswald Spengler, der bereits 1936 in München an Herzversagen starb und zeitweise mit einem autoritären »preußischen Sozialismus« kokettierte, wollte mit Hitler nichts zu tun haben. Er verachtete ihn und verabscheute vor allem den Antisemitis- mus, nach 1933 zog er sich dahin zurück, wo er herkam: ins Private.
Betrachtet man heute die genannten Autoren, die man gemeinhin zum Umfeld der »konservativen Revolution« zählt, so muss man sagen: das ist eine Chimäre. Die Wandlungen und Korrekturen in ihren Werken machen sie untauglich für eine simple ideologische Verortung. Die wäre eine Verfälschung der inneren Widersprüchlichkeit, die gerade ihre Bedeutung ausmacht.
Thomas Mann war anfangs wie auch Hermann Hesse von Spengler begeistert. Ein origineller Privatdenker, der noch dazu schreiben kann. Wider den billigen Fortschrittsoptimismus! Endlich kommt einer, der sagt, die Dinge werden nicht immer nur besser und schneller und das Leben leichter, irgendwann, aber unausweichlich, ist auch das Gegenteil der Fall. Welch ein Pessimist in der Nachfolge Schopenhauers, der verkündet: Wir leben in einer Endzeit, vergleichbar dem alten Rom – denn das, was an Entwicklungsmöglichkeiten in der westlichen Zivilisation steckt, hat sich längst verbraucht, wir befinden uns in der Phase des Absterbens. Das ist der Kern des »Untergangs des Abendlandes«: eine zyklische Kreislauftheorie der Kultur, die mit Geburt, Wachstum und Blüte beginnt und einem Welken und dem Tod endet.
Das ist kein bloßer Biologismus, sondern ein Panorama von acht Kulturen. Natur- und Kulturgeschichte durchdringen sich gegenseitig. Es steckt viel Goethe in Spengler, magische Naturphilosophie, wie sie sich in Goethes Farbenlehre zeigt. Die Kulturkreisläufe des alten Ägypten, Babyloniens, Indiens, Chinas, der Antike, Arabiens, der Azteken und des »faustischen Abendlandes« vergleicht Spengler dann in ihrem Entstehen und Vergehen. Der Kulturanthropologe Levi-Strauss hat sich ausdrück- lich auf diesen Ansatz bezogen, der sofort in der Kritik verschiedenster Parteiungen stand. Nihilistisch und zukunftsfeindlich sei er, war dann vier Jahre nach dem Erscheinen des ersten Bandes zu hören, als 1922 der zweite Band herauskam. Trotz Inflation – das Grundgefühl der Deutschen war nicht mehr der »Untergang«, davon wollte man nichts mehr hören, man stritt um Wege in die Zukunft.
Vor allem musste man sich zur Weimarer Republik verhalten. Für Spengler war sie bloßer Teil des Untergangsszenarios, was dann Thomas Mann, der nun anders über die Frage der Republik dachte, von seinem »hyänenhaften Prophetentum« sprechen ließ. In Spenglers Aufsatz von 1927 »Vom deutschen Volkscharakter« jedoch lesen wir überaus klarblickend: »Keine ›Sache‹, kein Führer, auch nicht die Karikatur davon, ist in einem anderen Lande der unbedingten Gefolgschaft so sicher: ein geheimer Schatz von ungeheurer Macht, für den, der ihn zu benützen weiß. Wir haben geschichtlich zu wenig erlebt um hier Skeptiker zu sein. Jeder Bauer vom Balkan, jeder Träger in einem amerikanischen Hafen kommt schneller hinter die Geheimnisse der Politik.«
Über die Analogie-Methode Spenglers spottete Robert Musil 1921 in »Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind«: »Es gibt zitronengelbe Falter, es gibt zitronengelbe Chinesen; in gewissen Sinne kann man also sagen: Falter ist der mitteleuropäische geflügelte Zwergchinese.« Ganz so schlicht argumentiert Spengler jedoch nicht. Adorno, der allergisch gegen geistig allzu simple Kampagnen war, verteidigte darum die Geschichtsphilosophie Spenglers. Sie enthalte – wie bei Elias Canetti in »Masse und Macht« – wichtige Einsichten etwa zum »Cäsarismus«, bei dem man nicht nur an Hitler, Mussolini oder Stalin denken sollte.
Oswald Spenglers Lebenslauf entsprach nicht dem, was man bei so einem rigiden Ordnungsdenker vermutet. 1880 in Blankenburg im Harz geboren, wurde er ein unwilliger Schüler der Franckeschen Stiftungen in Halle. Der Militanz des Pietismus ausgeliefert, zerbrach er fast. Er wurde schließlich psychisch krank, war lebenslang getrieben von Panikattacken, ein Schlafwandler und schließlich schwer herzkrank (und darum nicht für den Militärdienst tauglich). Im Schatten davon wuchs sein Sinn für Verfeinerungen, bei gleichzeitig praktizierter harscher Disziplin sich selbst gegenüber.
Man könnte nach hundert Jahren »Untergang des Abendlandes«, die nach ihrem Erscheinen fatal schnell als antiquiert abgetan wurden, mit dem Zeitgeist von heute sagen, zu mehr als einem opulenten Kulturpessimismus habe es bei Spengler nun mal nicht gereicht. Aber genauer betrachtet, ist es sehr viel mehr: eine minutiöse Chronik des Zerbrechens der Selbstillusionierungen jeder Gegenwart, die sich ganz selbstverständlich für die Krone der Entwicklung und zudem von unbegrenzter Dauer hält. Das aber ist Gegenwart nie.
Ein Pessimist in der Nachfolge Schopenhauers, der verkündet: Wir leben in einer Endzeit.
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes, Anaconda, 1472 S., 9,95 €