Zehn verschenkte Jahre
Wirtschaftswissenschaftler Axel Troost über Lehren aus der Finanzkrise und aktuelle Risiken
Zehn Jahre ist es mittlerweile her, da versetzte der Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers die Finanz- und Bankenwelt in einen Schockzustand. Ohne massive staatliche Interventionen wäre das Finanzsystem nicht zu retten gewesen. Doch wie ist es heute um die Stabilität bestellt? Hat die Welt aus den Ereignissen gelernt? Wer waren die Opfer der Finanzkrise? Und wie sind die Rettungsaktionen aus heutiger Sicht zu bewerten?
Zehn Jahre nach der Pleite von Lehman Brothers ist noch immer viel von Krise die Rede. Befinden wir uns noch immer im Krisenmodus?
Klar, die Krise ist längst nicht ausgestanden. Das sieht man etwa an der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB), die sich längst noch nicht normalisiert hat. Die Banken in Südeuropa sitzen immer noch auf einem riesigen Berg notleidender Kredite. Und die politische Krise der EU hat sicher auch eine Menge mit den Spätfolgen der Finanz- und Wirtschaftskrise zu tun.
So richtig zu spüren ist das aber nicht. Nehmen wir Deutschland: Die Wirtschaft wächst seit Jahren, das Einkommen vieler Bürger steigt zumindest moderat, die Arbeitslosigkeit sinkt.
Es ist paradox, dass in Deutschland die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre nicht recht zu einem Krisenszenario passt. Ab 2010 hat sich die Finanzkrise in eine Krise der Europäischen Währungsunion transformiert. Getroffen hat das vor allem die Staaten in der Peripherie. Die deutsche Exportwirtschaft profitiert von der daraus resultierenden Schwäche des Euros. Die moderaten Lohnabschlüsse haben bei niedrigen Inflationsraten wieder zu Reallohnsteigerungen geführt. Und durch die Niedrigzinsen hat der deutsche Staat in den letzten zehn Jahren 300 Milliarden Euro an Zinsausgaben gespart. Die Krise hat der Eurozone ein verlorenes Jahrzehnt beschert, Deutschland aber günstige Rahmenbedingungen.
Der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück sagte zu den Ereignissen im September 2008, er habe in den Abgrund geblickt. Wie ernst war die Lage wirklich?
Die Lage war schon sehr ernst. Nach der Lehman-Pleite stand das internationale Finanzsystem vor dem Zusammenbruch. Es war richtig, dass die Staaten, auch vor den Erfahrungen der Finanzkrise der 1930er Jahre, eingeschritten sind. Die Art und Weise war aber ein Skandal, vor allem weil die Bundesregierung völlig unvorbereitet war und dogmatisch vorging. Im Untersuchungsausschuss zur Pleite der Hypo Real Estate konnten wir das leider nur zum Teil aufarbeiten, weil die Zeit zu knapp wurde und nach der Wahl keine Mehrheit für eine umfassendere Aufarbeitung mehr da war.
Der Lehman-Schock trieb die Politik zum Handeln an: »Kein Markt, kein Produkt, kein Akteur« sollten künftig unreguliert bleiben, versprachen die G20-Staaten Ende 2008. Tatsächlich wurde in den Folgejahren einiges auf den Weg gebracht wie strengere Eigenkapitalvorschriften für Banken, bessere Möglichkeiten zu deren Abwicklung, Boni-Beschränkungen. Hat dies die Bankenwelt spürbar verändert?
Die G20 gab es in dieser Form vorher gar nicht, sie ist erst durch die Not der Krise entstanden. Dass die Regulierungsagenda tatsächlich abgearbeitet wurde, war nicht selbstverständlich, aber der Druck war auch sehr groß. Die ständigen Angriffe auf die Sparkassen und Genossenschaftsbanken haben mit der Krise abrupt aufgehört und man war froh, dass sie bei der Kreditversorgung in die Bresche sprangen. Bei den privaten Großbanken und den Landesbanken gab es Bereinigungen, aber Fusionen und Übernahmen haben wiederum zu einer stärkeren Konzentration geführt, was kontraproduktiv ist. Zudem sind viele Geschäfte in schwach regulierte Schattenbanken abgewandert. Die Regulierer haben durchaus Forderungen aufgegriffen, die vorher dem Mainstream entgegenliefen, wie etwa den Finanzsektor als Ganzes in den Blick zu nehmen und nicht nur auf Ebene der Einzelinstitute anzusetzen. Im Ergebnis wurden aber viele der Maßnahmen verwässert oder gar nicht erst verwirklicht, wie etwa die Finanztransaktionssteuer.
Sie schrieben in einer Studie, die Regulierungen seien nicht ausreichend, da ein Systemwechsel vermieden wurde. Was genau vermissen Sie?
Ich habe die Finanzkrise mit einer Kernschmelze verglichen. Nach den Reaktorkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima stand man vor der Frage, ob man die Reaktoren durch neue Technik und Vorschriften sicherer zu machen versucht oder ob man aus einer nicht beherrschbaren Technik ganz aussteigt. Bei der Finanzmarktregulierung hat man entschieden, an einem latent instabilen System festzuhalten und es zu reparieren. Man hat versucht, Fehlanreize zu beseitigen, damit die Märkte wieder sich selbst überlassen werden können. Tiefere Ursachen für die Instabilität wie die Vermögenskonzentration, die Privatisierung der Altersvorsorge, die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte und die Architektur des Weltfinanzsystems wurden vollkommen ausgeblendet.
Es gab auch mal die Forderung, dass keine Bank mehr »too big to fail« sein darf. Würde heute nicht wieder nach Steuergeld gerufen, wenn eine der ganz großen Banken ins Schleudern geriete?
Das neue Bankenabwicklungsregime eignet sich für mittelgroße Banken, aber nicht für eine Bank mit einer Bi- lanzsumme von einer oder zwei Billionen Euro, wovon wir noch etliche in Europa haben. Da ist das System nach wie vor überfordert. Im Unterschied zu früher wird man Bankverluste deutlich leichter auf die Eigentümer, große Gläubiger oder auf den bankfinanzierten Rettungsfonds abwälzen können. Das ist aber ein schwacher Trost, weil die indirekten Kosten einer Finanzkrise, also Kosten für Konjunkturprogramme oder aus Steuerausfällen, in der Regel viel größer sind als die Verluste aus einer Bankenrekapitalisierung. »Too big to fail« ist nach wie vor ein ungelöstes Problem.
Zu strenge Bankenvorschriften könnten aber auch dazu führen, dass kaum noch Kredite etwa an den Mittelstand vergeben werden, was die Wirtschaft abwürgt. Lassen sich mittels Regulierungen die grundlegenden kapitalistischen Widersprüche überhaupt überwinden? Die Nachkriegszeit mit einer strikten Regulierung war eine Zeit von sehr großer Finanzmarktstabilität. Mit dem Durchmarsch des Neoliberalismus – er begann bereits am 27. Oktober 1986, als Maggy Thatcher mit dem »Big Bang« den Finanzplatz London komplett dereguliert hat – gab es dann eine Phase mit sehr vielen großen Finanzkrisen. Das bedeutet aber auch: Man kann mit konsequenter Re-Regulierung sehr wohl dafür sorgen, dass die Realwirtschaft mit Krediten versorgt und Zockerei eingedämmt wird.
Warum hat die G20-Staatengemeinschaft nach anfänglichem Elan längst wieder nachgelassen: War es die Lobbymacht der Banken oder der schwindende Leidensdruck, nachdem sich der Bankensektor und die Finanzmärkte relativ schnell wieder stabilisierten? Beides spielt sicher eine Rolle. Die G20 hat ihre Regulierungsagenda aus ihrer Sicht erfolgreich abgearbeitet. Für weitergehende Maßnahmen gab es nie einen Konsens. Während die USA ihre Krise relativ schnell in den Griff bekamen, haben die europäischen Staaten zu ganz anderen makroökonomischen Konzepten gegriffen und die Krise durch Austeritätspolitik verlängert. Auf einmal waren nicht mehr die Banken, sondern die vermeintlich über ihre Verhältnisse lebenden Südeuropäer die Schuldigen.
Man hat den Eindruck, dass viele Politiker nicht nur in Europa meinen, wenn es ernst wird, stehen jetzt die Zentralbanken oder der Internationale Währungsfonds als Finanzfeuerwehren bereit zum Löschen. Ist diese Sicht nicht trügerisch?
Also, die EZB könnte ihre Zinsen aktuell gar nicht mehr viel weiter sen- ken und viele Staaten haben auch nicht mehr viele finanzielle Spielräume, um noch mal große Rettungsprogramme aufzulegen. Die EU ist inzwischen so sehr gespalten und hat sich vertraglich so viele Fesseln aufgelegt, dass sich eine stabilisierende Geld- und Fiskalpolitik schwerlich durchsetzen lässt. Das Dumme ist, dass die nächste Krise nur eine Frage der Zeit ist. Wenn dann die Eurozone nicht auseinanderfliegen soll, müssen die EU-Verträge und der Fiskalvertrag verändert, gebrochen oder inhaltlich stark gebogen werden.
Wenn man künftige Krisen bekämpfen will, muss man die Ursachen beseitigen. Bis heute wird in der Wirtschaftswissenschaft kontrovers darüber diskutiert, was der entscheidende Auslöser für die Ereignisse vor zehn Jahren war: eine zu lockere Geldpolitik, die Gier der Banker, die Deregulierung des Finanzsektors, die stark gestiegene Vermögensungleichheit. Wenn Sie sich festlegen müssten: Was war die Ursache der Finanzkrise?
Man kann die Krise nicht auf eine einzelne Ursache zurückführen. Denn Ursachen haben wiederum Ursachen, oft stehen sie in Wechselwirkungen und ökonomische Gesetzmäßigkeiten haben nicht den Charakter von Naturgesetzen, die man nicht durchbrechen kann. Wenn man eine einzelne Ursache nennen muss, dann war es der Finanzmarktkapitalismus, aber damit ist wenig gesagt.
Da dieser weiterhin dominant ist: Wie groß ist das Risiko einer neuerlichen Finanzmarktkrise heute? Wir haben vor 2008/2009 schon von der Krisenhaftigkeit des Systems gewarnt, ohne sagen zu können, wo und wann die Krise genau ausbricht. Von daher wage ich keine Prognosen. Die nächste Finanzkrise ist allerdings schon längst da, wenn man etwa in die Schwellenländer schaut, insbesondere nach Argentinien oder auf die Türkei. Wann die nächste Finanzmarktkrise in Europa ausbricht, lässt sich schwer sagen. Angesichts der Konstruktion der Eurozone könnte es relativ bald wieder zu einer Zerreißprobe kommen. Eine Krise muss sich aber nicht spektakulär entladen, sie kann sich auch schleichend hinziehen.
Politik und Finanzsektor haben also wenig aus dem Lehman-Crash gelernt.
Letztendlich waren die letzten zehn Jahre leider verschenkt, ja. Man hat zwar einige Probleme gelöst, dafür aber andere geschaffen und es haben sich neue Probleme ergeben. Von daher lautet meine Bilanz der Finanzmarktregulierung: Chance vertan.