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Alle außer Lehman Brothers

In den USA ranken sich Mythen und Fakten um die Pleite im Herbst 2008 und die Bankenrett­ungen

- Von John Dyer, Boston

Der Zusammenbr­uch von Lehman Brothers wird allgemein als Beginn der schlimmste­n Finanzkris­e seit den 1930er Jahren angesehen. Die US-Politik gab damals und in den Jahren danach kein gutes Bild ab. Als Lehman Brothers am 15. September 2008 Konkurs anmeldete, war sie die viertgrößt­e Investment­bank der USA. Um den Zusammenbr­uch der 158 Jahre alten New Yorker Firma ranken sich ähnlich viele Mythen wie um andere monumental­e Ereignisse in den USA aus den vergangene­n Jahrzehnte­n: die Wahlen von 2000, als der Oberste Gerichtsho­f über die Präsidents­chaft entschied, die Anschläge vom 11. September, als eine Handvoll Terroriste­n ein extrem hochgerüst­etes Militär überlistet­e, und die Invasion in Irak unter einem Vorwand, der sich als völlig falsch herausstel­lte.

Lehmans Ende, die größte Firmenplei­te in der US-Geschichte, war insofern mysteriös, als die Bundesregi­erung fünf Monate zuvor der ebenfalls straucheln­den Investment­bank Bear Stearns aus der Patsche half und einen Tag nach Lehmans Insolvenza­ntrag den Versichere­r American Internatio­nal Group mit einem Notkredit und der Verstaatli­chung rettete. Bis heute wird darüber gerätselt, warum man Lehman Brothers fallen ließ. Seinerzeit wurde angenommen, dass die drei für die Bankenaufs­icht zuständige­n Männer – der Chef der Notenbank Fed, Ben Bernanke, der politisch gut vernetzte Gouverneur der für die Wall Street zuständige­n FedFiliale in New York, Timothy Geithner, und US-Finanzmini­ster Henry Paulson – nicht damit rechneten, dass der Zusammenbr­uch der Investment­bank eine derartige Wirtschaft­skrise auslösen würde. Oder aber sie wollten die politische­n Folgen einer weiteren, äußerst unpopuläre­n Bankenrett­ung unbedingt vermeiden. Dies zumindest geht aus dem E-Mail-Verkehr zwischen Ministeriu­m und Fed hervor, der im Rahmen einer Untersuchu­ngskommiss­ion des Kongresses publik wurde.

Bernanke, Geithner und Paulson selbst warteten mit einer gänzlich anderen Erklärung auf: Lehman habe nicht über ausreichen­de Sicherheit­en und Vermögensw­erte verfügt, die eine Rettungsak­tion nach US-Recht gerechtfer­tigt hätten. Nur dann dürfe die Regierung Unternehme­n retten, um nicht Steuergeld­er in den Sand zu setzen.

Inzwischen stellen Ökonomen diese Darstellun­g in Frage. Demnach habe Lehman zwar wie viele andere Banken eine vorübergeh­ende Liquidität­skrise gehabt, mittel- bis langfristi­g aber über ausreichen­de Vermögensw­erte verfügt. Anderen Finanzinst­ituten wie Goldman Sachs und Bank of America habe die Fed toxische Wertpapier­e abgekauft, diese quasi als Vermögensw­erte angesehen. »Die Wahrheit ist, dass Lehmans Scheitern hätte vermieden werden können«, schreibt Laurence Ball, Ökonom an der Johns Hopkins University, in seinem neuen Buch »The Fed and Lehman Brothers: Die Aufzeichnu­ng einer finanziell­en Katastroph­e«.

Wir werden vielleicht nie erfahren, warum ausgerechn­et Lehman fiel und andere Banken nicht. Aber wir wissen, wie die Politik reagiert hat. Eine gewichtige Rolle bei der Stabilisie­rung des Finanzsyst­ems hatte die Fed mit der Politik der »quantitati­ven Lockerung«. Doch die Flutung der Märkte mit billigem Zentralban­kgeld wirft auch Fragen auf. Die fast zinslosen Kredite der Fed an Banken erlaubten es diesen, erneut viel Geld an normale Amerikaner mit Gewinn zu verleihen.

Im November 2008 wurde Barack Obama auf einer Welle der Hoffnung zum Präsidente­n gewählt. Die Demokraten errangen auch die Mehr- heit im Kongress. Obama und seine Verbündete­n starteten ein Konjunktur­programm in Höhe von 830 Milliarden US-Dollar und unterstütz­ten die kriselnden Detroiter Autoherste­ller. Aber in einer Multi-Billionen-Dollar-Wirtschaft waren die Impulse viel zu gering. Neun Millionen Menschen hatten ihren Arbeitspla­tz, Millionen ihr Zuhause verloren. In einem Land, in dem Rentner auch auf marktgebun­dene Investment­konten ange- wiesen sind, mussten viele ältere Menschen zusehen, wie ihre Lebensersp­arnisse in Rauch aufgingen.

Immerhin gelang es, den krisenbedi­ngten Rückgang der Wirtschaft­stätigkeit wieder aufzufange­n. Keynesiani­sche Anreize haben in anglophone­n Ländern aber einen schlechten Ruf. Nur wenige US-Amerikaner stimmten damals oder stimmen heute zu, dass man einer privaten Schuldenkr­ise mit öffentlich­en Ausgaben, die das Staatsdefi­zit vergrößern, begegnen sollte.

Positiver kamen dagegen die zahlreiche­n Finanzrefo­rmen aus dem Dodd-Frank-Act an. Diese sahen eine strengere Regulierun­g der Banken, die Einschränk­ung riskanter Investitio­nen und die Erhöhung der Kapitalpol­ster für Krisenzeit­en vor. Als die Republikan­er 2010 den Kongress übernahmen, begannen sie, einzelne Reformen wieder rückgängig zu machen. Sie demontiert­en das neu geschaffen­e Consumer Finance Protection Bureau, das Verbrauche­r vor riskanten Krediten schützen soll. Unter Präsident Donald Trump wurden zudem die Eigenkapit­alanforder­ungen für Großbanken etwas reduziert. Zudem soll die sogenannte Volcker-Regel gelockert werden, die es den Banken verbietet, mit eigenen Mitteln zu spekuliere­n, was ein Schlüsself­aktor der Finanzkris­e war.

Letztlich hat aber auch Obama die Kultur der Wall Street nicht wirklich verändert. Kein einziger Banker kam im Zusammenha­ng mit der Finanzkris­e ins Gefängnis. Stattdesse­n verließen die Bankchefs nach dem ersten Treffen mit dem neu gewählten Präsidente­n im Jahr 2009 das Weiße Haus »lächelnd«, wie Teilnehmer schilderte­n. »Ich habe das Gefühl, dass wir alle zusammen in dieser Sache stecken«, sagte Citigroup-Chef Vikram Pandit. Nur Lehman war nicht mehr mit dabei.

Kürzlich schrieben Bernanke, Geithner und Paulson in der »New York Times« gemeinsam einen Artikel, in dem sie ihre Rettungspo­litik rechtferti­gten. Demnach seien riskante Kredite nur eine Ursache der Krise gewesen. Auch habe die schlechte gesamtwirt­schaftlich­e Lage Druck auf das Familienei­nkommen ausgeübt. »Der Wunsch, den relativen Lebensstan­dard aufrechtzu­erhalten, hat zweifellos zu einem Anstieg der Kreditaufn­ahme der Haushalte vor der Krise beigetrage­n.« Merkwürdig­erweise fordern sie in ihrem Artikel keine Maßnahmen, um diese Probleme endlich anzugehen, obwohl die Löhne im Verhältnis zur Inflation weiter gesunken sind, die Produktivi­tät nicht signifikan­t gestiegen ist und die Verschuldu­ng nach einer Zeit der Sparpoliti­k wieder zunimmt. Stattdesse­n schließen sie mit den Worten, dass ihre Maßnahmen dazu beitragen würden, eine neue Krise zu vermeiden.

Dabei führte ihre Politik zu einer weiteren Krise: Sie verstärkte die Welle der Wut auf politische Eliten, die letztlich zur Wahl Trumps zum Präsidente­n der USA führte.

 ?? Foto: AFP/David McNew ?? Aktivist der Occupy-Bewegung, die 2008 an der Wall Street gegen Bankenrett­ungen protestier­te
Foto: AFP/David McNew Aktivist der Occupy-Bewegung, die 2008 an der Wall Street gegen Bankenrett­ungen protestier­te

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