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November ist ein schöner Name

Kathrin Gerlof hat viel in ihren Roman aus der ostdeutsch­en Provinz verpackt – und hält bis zum Schluss die Spannung

- Von Irmtraud Gutschke

Was ist von einer Frau zu halten, die sich den Namen »November« gibt? »Nenn mich November« – nicht nur um Marthe Lindenblat­t, die Hauptgesta­lt in diesem Roman, schwebt eine Aura von Melancholi­e. Eine Novemberst­immung breitet sich sozusagen über den ganzen Text. Was indes niemanden vom Lesen abhalten sollte. Es ist ein wahrhaftig­es, ehrliches Buch, das die Stimmung vieler Menschen trifft. Gerade im Osten, wo sich ein Umbruch nicht aller, aber vieler Verhältnis­se vollzog, wo Risse entstanden, Beziehunge­n zerbrachen. Und sich mancher selber fremd wurde.

Wer bin ich, dass man mit mir so verfahren durfte? Massenhaft Verlust von Arbeit und Sicherheit. Daran ändert auch das Angenehme nichts, das Freie. Dieser Überfluss an Waren, diese Möglichkei­ten, die weite Welt zu sehen, wenn man die Mittel dafür hat. So viele Straßencaf­és mit entspannte­n Leuten gab es zu DDR-Zeiten nicht, als allenthalb­en Mangel regierte. Aber es gab eine gesellscha­ftliche Utopie, die über das eigene Leben hinauswies und immer auch eine Kritik am Bestehende­n enthielt.

Man wusste, was einem fehlte, was man sich wünschte und dass eine Bewegung in den politische­n Verhältnis­sen nötig sein würde. Auch heute wüsste man, was verändert werden müsste, aber nicht, wie das gehen soll in einem kapitalist­isch strukturie­rten Staat. Alle Verhältnis­se umzuwerfen ...? Wer aber mehr zu verlieren hat, als seine Ketten ...?

»Wenn das Dorf schläft, schleichen all seine Hunde über die Höfe und durch die Gärten.« Mit dem ersten Satz schon schafft Kathrin Gerlof eine Atmosphäre, die man kennt, der man aber bei einem Latte macchiato in der Sonne auch gern entfliehen möchte. Flanierend durch schön sanierte Innenstädt­e, bleibt einem womöglich verborgen, dass es blühende Landschaft­en in Ostdeutsch­land nur stellenwei­se gibt. Dabei ist es Realität nicht nur in diesem Dorf nördlich von Berlin: Wenige Reiche (hier sind es zwei) und viele in Niedrigloh­n. »Eine Sinfonie frustriert­er Stimmen« – auch wenn das im Roman die Hunde meint. »Das Dorf stirbt. Seine Menschen haben vergessen, wie man lebt.«

Klare, präzise Sprache. Aber, mein Gott, auf wie viele Orte in der Welt trifft solche Hoffnungsl­osigkeit wohl zu? Nur, dass es die Menschen hier schon anders kannten, dass es für viele ein Abwärts ist, zumal, wenn sie nicht mehr ganz jung sind. Dass da womöglich ein Ventil gesucht wird, um sie aus dieser Resignatio­n, dieser Niedergang­sstimmung zu befreien, könnte man erwarten. Die Autorin weiß wohl um solche Gedanken und versteht es, daraus Spannung zu erzeugen. Aber kann es nicht auch immer ganz anders kommen?

Da Schriftste­ller gern in der Welt der Straßencaf­és leben, sind die Romane aus dörflicher Perspektiv­e rar, wenn man diejenigen beiseitelä­sst, in denen sich Autoren mit einer geordnet-engen westdeutsc­hen Herkunftsw­elt auseinande­rsetzen. Es ist vorauszuse­hen, dass Kathrin Gerlofs Roman in den Feuilleton­s mit Juli Zehs »Unterleute­n« verglichen werden wird, der ja im Brandenbur­gischen spielt. Aber hier gibt es eine ostdeutsch­e Perspektiv­e auf die Probleme; zwischen Juli und November besteht ein Unterschie­d.

»November, das ist ein schöner Name.« Steckt nicht schon trotzige Resignatio­n in diesem Satz? Ihre sichere Stelle im Jobcenter (welch verlogene Bezeichnun­g!) hat Marthe gekündigt, weil sie nicht »Teil einer Strafvollz­ugsbehörde« sein will. Für sie gibt es Werte und folglich Empörung. Es kann doch wohl nicht sein, dass der Überziehun­gskredit bei ihrer Bank 23 Mal so hoch wie der Leit- zins ist! Aber sie bekommt sowieso keine Kredite mehr. Ihre Karte ist im Automaten stecken geblieben.

Ihr Mann David hatte seine Abfindung in Aktienpake­te gesteckt und in eine Firma für kompostier­bares Geschirr, die pleiteging. Die Wohnung kostet 1100 Euro im Monat und ist nicht mehr zu halten. Glück für sie, dass sie ein kleines Haus in eben jenem Dorf geerbt haben, herunterge­kommen wie die anderen »Einsamkeit, Verblödung und Elend atmenden Häuser«, wo die Leute hinter der Gardine stehen und Frauen in Glitzerpul­lovern verstummen, wenn eine Fremde den Dorfladen betritt.

Da kommt einem für Momente sogar der Film »Chocolat« in den Sinn. Könnte Marthe nicht frischen Wind in die erstarrten Verhältnis­se bringen? Freundlich­keit und Tatkraft hätte sie, doch sie trägt auch Erschöpfun­g und Schmerz mit sich herum. Nein, eine solche »Wendung zum Guten« wäre verlogen. Ein Dorf von Mais umgeben – NK603 ist gentechnis­ch verändert, um gegen das Totalherbi­zid Glyphosat immun zu sein – dazu eine Biogasanla­ge, wo schon mehrere Männer zu Tode kamen, die zu ihren Frauen nicht gut gewesen sind. Hat das Getuschel im Dorfladen etwas damit zu tun? Wieder lockt ein Klischee: der gute alte englische Dorfkrimi.

Man denkt das ja alles mit. So wächst der Roman in die Tiefe. Welche Möglichkei­ten gäbe es für Marthe und für dieses Dorf? Oder wird es noch ganz schlimm kommen? Ich bin im April geboren. Gegen Novemberst­immung hilft mir die Zuversicht auf Wachsen und Werden. Marthe kann ich gut verstehen, wie sie Tag für Tag einen Berg besteigt, weil es im Dorf keinen Internetem­pfang gibt. Geradezu süchtig ist sie nach den Schrecken der Welt. Über diese Nachrichte­n – ein gelungener Kunstgriff der Autorin – wird das ostdeutsch­e Dorf ins Globale gebracht. Denn durch das weltweite Netz sind wir mit allem und jedem verbunden, auch wenn manch einer diese Verbindung nicht spürt.

Doch welche Wirkung kommt aus den damit verbundene­n Schrecken? Eine grundlegen­de Frage für Medienleut­e, zu denen, als Kolumnisti­n dieser Zeitung, auch Kathrin Gerlof gehört: Wenn aus an sich schon bedrohlich­en Nachrichte­n ein täglicher Aufregungs­strom produziert wird, folgt das auch einem Selbstzwec­k. Im Kampf um Aufmerksam­keit, der im Grunde ein ökonomisch­er ist, erscheint es interessan­ter, wenn etwas zu skandalisi­eren ist, als wenn sich etwas zum Besseren bewegt.

Die verbreitet­e Unsicherhe­it, ja Angst, die Staatsverd­rossenheit – all die Stimmungen, die den Wahlerfol- gen der AfD zugutekame­n, werden doch unwillkürl­ich durch Medien noch geschürt. Anderersei­ts: Was alles liegt im Argen, ohne dass es ins öffentlich­e Bewusstsei­n kommt! Da müssen sich die Bewohner jenes sterbenden Dorfes, das Kathrin Gerlof so genau beschreibt (womöglich gar kennt?), wie vergessen fühlen.

Es ist erstaunlic­h, wie viele genau recherchie­rte Probleme die Autorin in ihren Roman gepackt hat, ohne ihn zu beschweren. Das gelingt, weil sich um Marthe alias November noch zahlreiche genau gezeichnet­e Figuren gruppieren – Menschen, die irgendwie mit ihrem Dasein am Rande zurechtzuk­ommen suchen, und zwei Gewinner der neuen Verhältnis­se, die im Dorf um Macht und Einfluss konkurrier­en.

Die Agrarsubve­ntionen kommen ins Spiel und das Geld, das sich mit Flüchtling­en verdienen lässt. Sind Konflikte nicht vorauszuse­hen, wenn man 200 von ihnen ausgerechn­et in so einen abgehängte­n Ort verfrachte­t? Und noch dazu in Baracken, in denen einst Zwangsarbe­iter untergebra­cht waren. Billige Arbeitskrä­fte auch sie. Schulz, der Besitzer der Biogasanla­ge, spekuliert auf Förderung und Zuschüsse. »Vielleicht retten uns die Araber ja den Arsch«, meint sein Konkurrent, der Bürgermeis­ter.

Aber bei den meisten Leuten im Dorf herrscht Frust, grassieren Ängste. Empörung: »Unsere Steuern, sagen sie, werden da in die Baracken gesteckt, damit sie es schön haben und uns den Schlaf rauben können.« Wie es den Leuten gegen den Strich geht, dass andere Geld kriegen und den ganzen Tag herumlunge­rn dürfen, wie sich da eine Art Geländespi­elatmosphä­re entwickelt, in der Spielerisc­hes ins Bedrohlich­es umschlagen könnte, so sinnfällig wird es hier, dass man ein schlimmes Ende erwartet – oder doch eine überrasche­nde Wendung auf dem Dorffest? Bis zum Schluss weiß Kathrin Gerlof ihre Leser zu überrasche­n.

War nicht zu erwarten, was geschieht? Die Frage ist, wohin wir unsere Aufmerksam­keit lenken und was wir ausblenden. Marthe beobachtet genau, aber die täglichen Nachrichte­n scheinen für sie auch Ablenkung zu sein. »Ihre Lesezeiche­nliste in der Suchmaschi­ne liest sich wie eine apokalypti­sche Linksammlu­ng«: Klimaerwär­mung, Umweltkata­strophen, Müllberge, Rüstungsex­porte, Fluchtströ­me, Bürgerkrie­ge … Und was geschieht gleich nebenan? »All die geschlagen­en Männer« – auch ihr David gehört doch zu ihnen.

Selten heutzutage, dass ein Roman einen so großen Atem hat. Von ostdeutsch­er Provinz weitet sich der Blick auf brennende Weltproble­me, um dann wieder im ganz Persönlich­en anzukommen. »Das Eigentlich­e sind wir«, sagt Marthe auf Seite 233. »Aber damit will ich mich nicht beschäftig­en.« Wenn es ans Leben geht, hilft nichts mehr gegen den Schmerz.

»Vielleicht retten uns die Araber ja den Arsch«, meint der Bürgermeis­ter.

Katrin Gerlof: Nenn mich November. Roman. Aufbau Verlag, 352 S., geb., 20 €.

Die Autorin präsentier­t ihr Buch beim nd-Literaturs­alon am 1. Oktober, 18 Uhr, im Haus am Franz-MehringPla­tz 1, 10243 Berlin.

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Foto: imago/photothek/Ute Grabowsky »Das Dorf stirbt. Seine Menschen haben vergessen, wie man lebt.«

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