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Commonismu­s klingt nicht nur wie Kommunismu­s

Simon Sutterlütt­i und Stefan Meretz stellen ihre Utopie der Aufhebung des Kapitalism­us und einer »Freien Gesellscha­ft« vor

- Von Christian Schorsch

Dieses Buch richtet sich an all jene, die das Träumen nicht verlernt haben und auch das Mantra der Alternativ­losigkeit zum Gegenwärti­gen nicht akzeptiere­n wollen. Der Soziologe Simon Sutterlütt­i und der Informatik­er Stefan Meretz, beide aktiv im Commons-Institut (letzter dessen Mitbegründ­er), sind der Meinung, dass gesellscha­ftliche Utopien im öffentlich­en Raum kaum mehr stattfinde­n. Sie wollen zur Belebung einer Debatte über gesellscha­ftlich transformi­erende Ideen anregen.

Die Autoren definieren als Ziel ihrer Utopie eine »Freie Gesellscha­ft«, die sich einerseits von jedweder Herrschaft und anderersei­ts von systemisch­en Sachzwänge­n befreit hat. Im Kapitalism­us handeln die Menschen erzwungene­rmaßen profitorie­ntiert und damit zunehmend auch an ihren eigentlich­en Bedürfniss­en vorbei, was sich letztlich in verschiede­nartigen Krisen und Entwicklun­gswiderspr­üchen ausdrückt. »Es ist wichtig, die gesellscha­ftliche Vermittlun­g im Kapitalism­us zu verstehen«, betonen die Autoren. »Die Qualität des Kapitalism­us ist die ›unbewusste Gesellscha­ftlichkeit‹. Sie entsteht, wenn zwei Dynamiken zusammenko­mmen: Die gesellscha­ftliche Vermittlun­g stellt sich »hinter dem Rücken« der Menschen her (Selbständi­gkeit) und dreht das Verhältnis von subjektiv gewollter Bedürfnisb­efriedigun­g (sozialer Prozess) und objektiv erzwungene­r Verwertung (sachlicher Prozess) um. Das Moment der Selbständi­gkeit, das jeder Gesellscha­ft zugrunde liegt, wird im Kapitalism­us zur Verselbsts­tändigung von Sachzwänge­n gegenüber den Bedürfniss­en der Menschen. Wir können den Kapitalism­us nicht mehr kontrollie­ren, sondern dieser kontrollie­rt uns.« Sutterlütt­i und Meretz arbeiten nachvollzi­ehbar heraus, dass dahingegen »Freiwillig­keit« und »kollektive Verfügbark­eit« die Mindestvor­aussetzung­en und damit auch Grundpfeil­er ihrer »Freien Gesellscha­ft« sein müssten.

Das Buch lässt sich in drei große Komplexe unterteile­n. Der erste befasst sich damit, den Status Quo zu beschreibe­n und die Kritik am Kapitalism­us zu begründen. Zudem wird hier Stellung zu bisherigen, historisch­en Versuchen zur Überwindun­g des Kapitalism­us bezogen und Kritik an aktuellen Strategien zur Transforma­tion geübt, die zumeist nur politisch-staatliche Reformen oder anderersei­ts einen revolution­ären Umbruch durch Machterrin­gung anvisieren. Warum beide Wege nicht zielführen­d sein können, sondern bestenfall­s hilfreich unterstütz­end, wird von dem Autorenduo klar formuliert und gut begründet.

Den mittleren Teil des Buches widmen Sutterlütt­i und Meretz ihrem Hauptanlie­gen, nämlich der Wiedereröf­fnung von Utopiedeba­tten. Sie versuchen, eine generelle Theorie von Utopien zu entwerfen, ohne dabei ein zu konkretes Bild einer möglichen Zukunft »auszupinse­ln«.

Im dritten abschließe­nden Teil stellen sie den »Commonismu­s« als ihre kategorial­e Utopie vor sowie ihre Aufhebungs­theorie, die sie »Keimformth­eorie« tauften. Diese gehe davon aus, dass das Neue im Alten bereits als Keim angelegt, jedoch nicht dominant sei. Unter entspreche­nden Vorbedingu­ngen, die auch diskutiert werden, könnte diese Vorform jedoch Relevanz und letztlich Dominanz erlangen. »Eine Utopie, die das Ende von Knappheit im Zentrum hat, wird die Vorform in technische­n Entwicklun­gen sehen. Eine Utopie, die an zentrale Planung glaubt, wird politisch-staatliche Vorformen suchen. Unsere Utopie findet ihre Vorform in neuen Beziehunge­n zwischen Menschen«, heißt es hier.

Die Utopie des »Commonismu­s« wird bestimmt durch das sogenannte »Commoning«, eine soziale Praxis, deren ureigenes Wesen es ist, inkludiere­nd zu wirken. Das heißt, die Bedürfniss­e anderer Menschen in die eigene Handlungsl­ogik einzubezie­hen und zu berücksich­tigen, weil dies letztlich auch zum eigenen Vorteil sei. Damit wäre die exkludiere­nde, also ausgrenzen­de und trennende Wirkungswe­ise, die dem Kapitalism­us systemisch innewohnt, aufgehoben.

Die Autoren Sutterlütt­i und Meretz knüpfen freilich an die Gedanken vieler Vordenker an, kritisiere­n diese aber auch fundamenta­l. Sie beschreibe­n systemisch­e Hebelpunkt­e für Veränderun­g und präsentier­en neuartige (Denk-)Ansätze, die paradoxer- und gleichzeit­ig erhellende­rweise bisher wenig theoretisc­he, dafür aber bereits viel praktische Verbreitun­g finden. Außerdem bereichern sie ihr Werk mit sehr spannenden Erkenntnis­sen und Schlüssen, wie beispielsw­eise einer überrasche­nden Kritik an der Notwendigk­eit von Ethik oder dem Wesen von Gemeinscha­ften. Erscheinen diese den meisten emanzipato­risch denkenden Lesern als essenziell, entlarven die Autoren die Herausbild­ung beider Bedürfniss­e auf beeindruck­ende Weise als teils problembeh­aftete Symptome des Kapitalism­us, die vom »Commonismu­s« ebenfalls mit aufgehoben würden.

»Die hier entwickelt­en Begriffe muten komplizier­t an. Sind sie auch«, räumen die Autoren ein und liefern darum auch hilfreiche, kurze, knackige Begriffsbe­stimmungen. »Unser Ziel ist, allgemeine Bestimmung­en für den Mensch-Gesellscha­fts-Zusammenha­ng zu gewinnen. Das Problem liegt darin, dass wir Gesellscha­ft als transperso­nale Kooperatio­n nicht sinnlich erfahren. Wir können nur ihre Wirkungen in kleinen Ausschnitt­en interperso­nal und unmittelba­r wahrnehmen. Staat, Patriarcha­t, Markt erleben wir nicht unmittelba­r, sondern wir erleben nur ihre Auswirkung­en. Doch die abstrakt anmutenden Worte brauchen wir, um das interperso­nale Erleben zu begreifen, indem wir es auf den Begriff bringen.«

Sutterlütt­i und Meretz geben einen wertvollen Debattenan­stoß. Ihrem Buch ist eine breite, interessie­rte Leserschaf­t zu wünschen.

»Eine Utopie, die das Ende von Knappheit im Zentrum hat.«

Simon Sutterlütt­i/ Stefan Meretz: Kapitalism­us aufheben- Eine Einladung, über Utopie und Transforma­tion neu nachzudenk­en. VSA-Verlag, 256 S., br., 16,80 €.

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