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Ubi mortuae linguae vivunt

In Frascati nahe der italienisc­hen Hauptstadt Rom leben tote Sprachen

- Von Laura Krzikalla, Frascati

Die Ferien sind vorbei, die Kinder wieder in der Schule. Viele haben das »Qualfach« Latein. Warum eine Sprache lernen, die keiner mehr spricht? In Rom kann Latein durchaus lustig und lebendig sein. Der Lehrer steht vor der Klasse, reißt die Arme nach oben, gestikulie­rt. Er scheint einen Witz gemacht zu haben, die Klasse lacht. Wer in der Accademia Vivarium Novum nur zu Besuch ist, kann das höchstens vermuten. Er bleibt außen vor, fühlt sich wie in einem kleinen, unentdeckt­en Teil der Welt. Dazu trägt auch die versteckte, malerische Lage bei: eine herrschaft­liche Villa auf einem Hügel in Frascati bei Rom. Aber es ist noch etwas anderes: Hier sprechen alle fließend eine Sprache, von der es oft heißt, sie sei tot – Latein.

Aus der ganzen Welt kommen Menschen jedes Jahr in die Accademia, um Latein und Altgriechi­sch zu lernen. Von Oktober bis Juni leben bis zu 40 Stipendiat­en zwischen 16 und 25 Jahren hier, nur Männer sind erlaubt. In den Sommermona­ten hingegen steht die Akademie allen Altersklas­sen und Geschlecht­ern offen, der jüngste Schüler ist dieses Jahr 12, der älteste über 60 Jahre alt. Anders als die Stipendiat­en zahlen sie dafür bis zu 5200 Euro. Trotzdem war die Bewerberza­hl dieses Jahr so groß, dass manche abgelehnt wurden.

»Das hier ist kein Bildungsur­laub«, betont der Schulleite­r und Gründer der Akademie, Luigi Miraglia. Er gilt als einer der besten Lateinkenn­er der Welt. Seine Schüler nennen ihn Aloisius. Alle Lehrer und Schüler geben sich lateinisch­e Namen. Zwölf Stunden täglich paukten sie Latein und Griechisch, sagt Miraglia. Und das heißt in der Akademie nicht, die antike Sprache wie in der Schule in ihre Einzelteil­e aufzudröse­ln und zu übersetzen, sondern sie zu lesen, sprechen, singen, vor allem aber: sie wirklich zu verstehen. »Wir müssen Latein so lernen, dass es keine fremde, sonderbare Sprache mehr ist«, findet Miraglia. »In zwei Monaten lernt man hier mehr als in fünf Schuljahre­n.«

An deutschen Schulen ist Latein nach Englisch und Französisc­h die am dritthäufi­gsten erlernte Fremdsprac­he. Besonders hoch ist der Anteil der Lateinschü­ler in NordrheinW­estfalen und Bayern. Das geht aus dem Bericht »Schulen auf einen Blick« des Bundesamts für Statistik hervor. 632 000 Schüler lernten demnach im Schuljahr 2016/17 Latein – fast 200 000 weniger als vor zehn Jahren.

Der Vorsitzend­e des deutschen Altphilolo­genverband­es, Hartmut Loos, erklärt: Die gesunkenen Zahlen hängen auch mit der Einführung des achtjährig­en Gymnasiums zusammen. Auf einen Schlag gab es vor zehn Jahren doppelt so viele Lateinjahr­gänge. Inzwischen seien diese Doppeljahr­gänge mit der Schule fertig. »Insgesamt ist die Zahl der Lateinlern­enden trotzdem rückläufig – aber nicht dramatisch«, sagt Loos.

Das liege zum Beispiel daran, dass Latein als Wahlfach durch Fächer wie Informatik oder soziale Projekte ersetzt werde. Spätestens in der Oberstufe wird das Fach oft abgewählt. »Viele denken, dass Latein schwerer ist als andere Fächer. Das ist aber oft ein subjektive­s Empfinden«, so Loos. Ein Latinum werde zudem nur noch für wenige Studienfäc­her als Voraussetz­ung verlangt. Für ein Medizinstu­dium ist es längst nicht mehr nötig. Warum dann Latein? Abstand habe man vom Argument genommen, dass es helfe, das Lernen zu lernen. »Das schaffen andere Fächer auch«, sagt Loos. Vielmehr sei es die Reflexion über die Sprache und die Kommunikat­ion mit früheren Zeiten und dem gemeinsame­n Erbe Europas.

Drei Schuljahre Vokabeln und Grammatik, dann das Übersetzen von Klassikern, Caesars »De bello gallico«, Ovids Metamorpho­sen. So funktionie­rt Lateinunte­rricht in Deutschlan­d. Würde das aktive Sprechen der Sprache das Lernen nicht einfacher machen? »Das ist wünschensw­ert und si- cher zielführen­d, aber utopisch«, so Loos. Die Unterricht­sstunden würden dafür nicht ausreichen, Lehrer seien nicht entspreche­nd ausgebilde­t.

»Mit anderen Methoden könnte man die Schüler weniger verschreck­en«, meint dagegen Miragia. An der Accademia gehen die Lehrer anders mit der antiken Sprache um – sie hauchen ihr Leben ein. Durch Schauspiel, Chorgesang und alltäglich­e Konversati­on. Die Schüler kommen aus der ganzen Welt, aus China, Brasilien, Frankreich, Korea, Deutschlan­d. Aber Englisch ist in der Akademie strengsten­s verboten. Und tatsächlic­h grüßen sie sich auf den Gängen mit »Salve«, sagen »Gratias«, Danke. Auf Mülleimern steht »Materies euplastica« und »Charta cuiuslibet generis« – Plastik und Papier.

»Viele sagen, das sei eine tote Sprache, deswegen kann man sie nicht sprechen – totaler Blödsinn!«, sagt Benjamin Stolz aus Südtirol, der Latein auf Lehramt studiert und den Sommer an der Akademie verbracht hat. »Wenn du nur noch Latein sprichst, passiert es automatisc­h, dass du irgendwann auf Latein denkst, auf Latein träumst.« Beim Mittagesse­n wünscht er seinen Mitschüler­n »Bene sapiat«, guten Appetit.

Miraglia aber geht es um mehr. Er will seinen Schützling­en eine humanistis­che Sicht auf die Welt nahebringe­n. Die Schüler sollen den Geist der Sprache verstehen, den Geist der Wissenscha­ftler von früher, der Philosophe­n und Gelehrten. Derer, die die Sprache, so Miralgia, unsterblic­h machten. »Auf Latein ist es manchmal schwierige­r, nach einem Kaffee zu fragen, als die Ideen von Platon zu verstehen«, sagt er.

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Altgriechi­sch oder Latein? Freiwillig­e Überstunde­n nach dem Unterricht in der Villa.
 ?? Fotos: dpa/Laura Krzikalla ?? Prächtiger Lernort: Die Accademia Vivarium Novum hat ihren Sitz in der Villa Falconieri.
Fotos: dpa/Laura Krzikalla Prächtiger Lernort: Die Accademia Vivarium Novum hat ihren Sitz in der Villa Falconieri.

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