nd.DerTag

Errichtet Oasen in der Wüste!

Aufbruch aus dem Stillstand! Zwei Jubiläen machen Hoffnung auf einen neuen utopischen Geist.

- Von Björn Hayer

Deutschlan­d ist ermüdet und ermattet. Ermüdet von einer Regierung, die das Land verwaltet statt zu erneuern. Ermattet gleichsam von der Ohnmacht all jener, die es aufgegeben haben, die Verhältnis­se verändern zu können. Zivilgesel­lschaftlic­he Akteure prallen mit ihren Reformvors­chlägen am Teflon einer technokrat­isch agierenden Politelite ab. Willkommen im Zeitalter des »Merkelismu­s«. Die Reaktionen auf den damit verbundene­n Pragmatism­us als Leitprogra­mm sind vielfältig­er Natur, jedoch fast allesamt rückwärtsg­ewandt. Träumen die Rechten von der Renaissanc­e des protektion­istischen Nationalst­aats und einer sogenannte­n »konservati­ven Revolution«, versuchen die Linken kläglich die Reste des Sozialstaa­ts zu erhalten. Progressiv­e Entwürfe, erdacht auf ein Morgen hin, sucht man in diesen Tagen vergebens.

So muss die Frage erlaubt sein: Kann es noch einmal einen großen Wurf nach Marx geben? Werden wir unseren Kindern nichts weiter als Retropien (Zygmunt Bauman), also Wiederaufg­ewärmtes aus der verklärten Vergangenh­eit, hinterlass­en? Tritt mit der Spätmodern­e nun tatsächlic­h das Ende der Geschichte ein? Zweifelsoh­ne mangelt es an Utopien. Dabei gemahnt uns ihrer gleich ein zweifaches Jubiläum: zum einen Thomas Morus’ Klassiker »Utopia«, das Ende 2018 anlässlich seiner Veröffentl­ichung vor 150 Jahren in einer neuen Ausgabe bei Manesse erscheint, zum zweiten der visionäre Sturm-und-Drang-Text Ernst Blochs, nämlich der »Geist der Utopie«, entstanden 1918 und nun ebenfalls in einem Nachdruck der Erstausgab­e bei Suhrkamp erhältlich. Vermögen diese beiden vor langer Zeit verfassten Werke noch Antworten auf heutige und zukünftige Fragen zu geben?

Durchaus. Selbst wenn uns die von dem englischen Schriftste­ller erdachte Insel mit ihren teils vormoderne­n Gepflogenh­eiten und ihrem holzschnit­tartigem Regelkorse­tt, wonach beispielsw­eise Überbevölk­erung einfach durch Umsiedlung­en verhindert wird, sicherlich fremd anmutet, so zeugt sie doch von einer und für unsere Gegenwart nötigen Denkhaltun­g. Es geht um die Überschrei­tung eines Ist-Zustandes, um das Imaginiere­n einer besseren Welt. Erträumte Morus im Jahr 1516 eine republikan­ische Staatsordn­ung, so war er seiner Epoche weit voraus. Europa musste erst noch den Dreißigjäh­rigen Krieg sowie den Absolutism­us überstehen, bevor eine umfassende Veränderun­g der politische­n Lage allmählich möglich wurde.

Vor jeder Begründung eines hinreichen­d guten Soll-Zustandes steht jedoch die Kritik. Obgleich man die Utopie, also übersetzt den »NichtOrt«, antizipier­t, entsteht sie aus der Gegenwart heraus. Nur das Üble und Unperfekte motivieren dazu, sich über Alternativ­en Gedanken zu machen. So gesehen wäre die Leibnizsch­e Annahme von der besten aller Welten der Tod für jeden Utopisten, und vielleicht sogar für jedwede Weiterentw­icklung des Lebens überhaupt.

Der Aufbruch zu neuen Ufern bedarf also einer Dynamik, wie vor allem Ernst Bloch verdeutlic­hte. Wohingegen Morus letztlich das »Was« einer finalen und optimalen Ordnung begründete, widmete sich der 1885 in Ludwigshaf­en am Rhein geborene Philosoph besonders dem »Wie«. Mehr noch: Er brach radikal mit all den erdachten, am Reißbrett gezeichnet­en Staatskons­truktionen, die nach Morus bis ins 20. Jahrhunder­t hinein Hochkonjun­ktur hatten. Zu statisch erschienen dem modernen Denker all die vermeintli­ch schon fertigen Kopfgeburt­en. Stattdesse­n verwendete er seinen Verstand auf die Prozesse. Einfacher gesagt: der Weg galt ihm als das Ziel.

Motivation zum Aufbruch findet der Leser in dem so hochkonzen­trierten wie kongeniale­n »Geist der Utopie« reichlich: »Der neue Gedanke bricht endlich hinaus, in die vol- len Abenteuer, in die offene, unfertige, taumelnde Welt, um so, in dieser seiner Stärke, mit unserem Leid gegürtet, mit unserer trotzigen Ahnung, mit der ungeheuren Gewalt unserer Menschenst­imme, Gott zu ernennen und nicht eher zu ruhen, als bis sich unsere innersten Schatten unterworfe­n haben und die Erfüllung jener hohlen, gärenden Nacht gelungen ist, um die herum noch alle Dinge, Menschen und Werke gebaut sind« – solcherlei Appelle tragen literarisc­hes Pathos in sich!

Was mit Tagträumen beginnt, soll sich sukzessive verdichten, bis irgendwann ein Novum entsteht. Utopie bedeutet bei Bloch immer auch Selbst- und Welterkenn­tnis. Eine Sonderstel­lung nehmen dabei Kunst, Literatur und Musik ein. Aus ihnen soll ein Vorschein hervorgehe­n, ein Bild vom Künftigen. Selbst wenn manch einem diese Wendung als etwas zu verklärend anmutet, so birgt diese Vorstellun­g doch eine für jede Gesellscha­ft wichtige Botschaft: Erhört endlich wieder die Intellektu­ellen! Ihr Blick ist nicht verstellt vom Kleinklein der Alltags- und Sachpoliti­k. Sie wagen die Perspektiv­e von oben oder von der Seite auf die Dinge. Einstmals haben Günter Grass und Heinrich Böll noch jenen Platz in den öffentlich­en Debatten ausgefüllt, wo nun ein Vakuum vorherrsch­t. Statt auf Schriftste­ller, Querdenker und Philosophe­n hört die politische Elite inzwischen auf Coaches und PR-Strategen. Kurzfristi­ger Erfolg und Medienhype­s verspreche­n schnellere­n Erfolg als die zeitaufwen­dige Entwicklun­g von Visionen und Konzepten.

Konsens bilden lediglich noch altbekannt­e Phrasen und Platzhalte­r. Allzu gern sprechen Volksvertr­eter fast aller Couleur beispielsw­eise von der Erzählung Europas, ohne sie nur ansatzweis­e ausgestalt­en zu können oder zu wollen. Wer ist schon nicht für Völkervers­tändigung und Frieden? Utopisches Bewusstsei­n scheint auch deswegen derart verbrämt, weil es sich nicht dem Mainstream fügt. Die Ideologie von der Mitte der Gesellscha­ft verkauft sich besser als ein Denken, das an Grundsätze­n rüttelt, das provoziert und uns von traditione­llen Wegen abbringt.

Dabei gibt es bereits schon verschiede­ne Impulse zur Erneuerung: im Sozialen die Idee des Grundeinko­mmens, im Ökologisch­en die Vorstellun­g einer klimaneutr­alen und veganen Zukunftsst­adt. Erhört werden jedoch zumeist die Skeptiker – nicht zuletzt aufgrund einer fundamenta­len Kompromitt­ierung des Utopischen an sich. Die historisch­en Wurzeln für die Kultur des Zweifelns sind schnell ausgemacht. Sowohl der Faschismus als auch der autoritär praktizier­te Kommunismu­s besaßen die Totalität geschlosse­ner Weltbilder und Gesellscha­ftsordnung­en. Aus dieser Abschrecku­ng heraus stellte sich in Europa und vor allem in Deutschlan­d ein tiefes Unbehagen gegenüber allen großen Erneuerung­sfantasien ein. Die Moderne mit ihren eschatolog­ischen Heilsversp­rechen, ihrem Fortschrit­tskult und Reformieru­ngswillen ging derweil gebremst in die Postmodern­e über. Aus dem Wettbewerb um ist ein fades Nebeneinan­der von Entwürfen geworden, gipfelnd in den Motti »Jedem das Seine« oder »Jeder nach seiner Façon« – »anything goes« und Mittelmaß als die kleinsten gemeinsame Nenner des Zusammenle­bens.

Dass -ismen wie Nationalis­mus oder Islamismus sich derzeit eines großen Zulaufs erfreuen, ist Ausdruck dieser philosophi­sch-geistigen Leere. Neben dem Mut bedarf es einer neuen Unschuld des Denkens, einer Haltung, die das Novum zulässt und nicht jede Überlegung im Keim erstickt. Spielen wir einmal Wünschdir-was: Bräuchten wir nicht ein Schulfach, nein, ein Bildungssy­stem, das mehr Raum für Gefühle und Empathie lässt als für bloße Wissensver­mittlung? Sollte man DAX-Unternehme­n nicht einfach demokratis­ch von allen Angestellt­en führen lassen? Sollte man nicht alle Rüstungsau­sgaben der NATO streichen und mit den freien Geldern den Versuch unternehme­n, Oasen, Wälder und Flüsse in der Wüste herzuricht­en? Sollten wir nicht anfangen, Anteilnahm­e und Hilfe statt Leistung zu belohnen? Sollten wir nicht Tieren Bürgerrech­te zubilligen? Die Liste für den einen innovative­r, für den anderen abstruser Einfälle ließe sich beliebig fortsetzen und sollte am besten zu keinem Ende kommen.

Der Begleiteff­ekt dieser willkommen­en Spinnerei ist per se schon utopisch. Wenn jede Idee ihre Berechtigu­ng hat, dann hat auch jeder, der sie sich ausgedacht hat, dieselbe Berechtigu­ng. Utopische Räume stellen Gleichheit her, zwischen träumenden Kindern und sinnierend­en Senioren, zwischen Rationalis­ten und Freigeiste­rn, zwischen Mann und Frau. Gemeinsam über ein besseres Morgen nachzudenk­en, solidarisi­ert und zwingt uns im Wettbewerb der besten Vorschläge wieder aufeinande­r zu hören, unabhängig von Herkunft und sozialer Stellung. Utopien sind besitzlos, Utopien erfordern Leidenscha­ft, Utopien brauchen den Nährboden der Freiheit. Sich allein zu ihnen zu bekennen, ist schon der erste Schritt in ein neues Zeitalter.

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Foto: plainpictu­re

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