Demokratie lernen
Der Rechtsruck ist auch an Schulen spürbar. Um dagegen anzugehen, hat in Sachsen eine Lehrerin eine AG Courage gegründet.
Wie tickt Sachsen? Das fragten sich nach dem rechten Schulterschluss von Chemnitz viele Bundesbürger. Alarmierende Befunde hatte schon 2017 der »Sachsen-Monitor« im Auftrag der Landesregierung ermittelt: 56 Prozent der Befragten halten die Republik für »durch die vielen Ausländer in gefährlichem Maß überfremdet«, 38 Prozent sind gar der Meinung, »Muslimen sollte die Zuwanderung untersagt werden«.
Bautzen, Cottbus, Freital, Heidenau, Clausnitz, Hoyerswerda: Immer wieder haben Gemeinden im Freistaat wenig schmeichelhafte Schlagzeilen gemacht. Eine Werbeagentur hat kürzlich ihre Bewerbung für die Kampagne »Investregion Leipzig« zurückgezogen, ein positives Image sei »weltweit nicht mehr vermittelbar«. Dass ausgerechnet die offene und für eine starke linke Subkultur bekannte Messestadt in den negativen Sog hi- neingezogen wurde, blieb im globalen Maßstab eine Randnotiz. Bis zur US-Zeitung »Washington Post« reichten die publizistischen Reaktionen auf die »Saxony riots«, chinesische Tourismusveranstalter warnen inzwischen vor Reisen in die neuen Bundesländer.
Weil die Ausschreitungen wirtschaftliche Folgen zeigen und das Defizit im Demokratieverständnis angesichts von Menschenjagden und Aufrufen zur Selbstjustiz nicht mehr zu leugnen ist, ist sogar die lange untätig gebliebene CDU-Regierung aktiv geworden. Ministerpräsident Michael Kretschmer fordert mittlerweile wie sein SPD-Koalitionspartner Martin Dulig mehr Bildung gegen rechts.
Entsprechende Modellprogramme gibt es schon länger auf Bundesebene. Im Ressort von Familienministerin Franziska Giffey (SPD) angesiedelt ist zum Beispiel die Kampagne »Demokratie leben«, die vor allem auf Prävention und zivilgesellschaftliches Engagement setzt. Auch die Kultusministerkonferenz der Bundesländer verlangt, mehr gegen rechte Tendenzen an den Schulen zu tun, die »Demokratiebildung« zu verstärken und Jugendlichen die Werte einer weltoffenen und liberalen Gesellschaft zu vermitteln.
Solche Initiativen müssen aber auch von unten, von Lehrenden und lokalen Schulverwaltungen unterstützt werden. Vorbildlich agierte zum Beispiel Simone Oehme von der Freien Mittelschule Weißenberg in der Oberlausitz – einer Region, in der bei der letzten Bundestagswahl jeder Dritte AfD gewählt hat. Sie entdeckte im Papierkorb ihrer Klasse einen Flyer, auf den ein Schüler »Freie Nazischule« gekritzelt hatte. Die Lehrerin für Deutsch, Russisch und Ethik berichtet auch von Jugendlichen, die Thor-Steinar-Klamotten tragen, den Hitler-Gruß zeigen oder ihre Freizeit am Wochenende mit Rechtsextremen verbringen. Um dagegen anzugehen, gründete Oehme die AG Courage, in der sich Schüler selbstständig mit Diskriminierungsthemen beschäftigen. Die freiwillige Arbeitsgemeinschaft ist Wahlfach im Ganztagsangebot der Schule. Die beteiligten Jugendlichen zwischen 13 und 15 Jahren zeigen Filme über Diskriminierung oder Fluchtursachen, sie organisieren Theaterworkshops zum Thema und sprechen Mitschüler auf rechte Sprüche an. Die Mittelschule Weißenberg darf sich inzwischen »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage« nennen, eine Auszeichnung, die der landesweit aktive Verein »Aktion Courage« regelmäßig verleiht. Bisher haben sich allerdings erst 90 der insgesamt 1700 Schulen im Sachsen, also nur etwa fünf Prozent, so eindeutig positioniert.
Die Regeln der Zivilgesellschaft pädagogisch zu vermitteln, sei auch jenseits der Schulen wichtig, betont Thomas Krüger, Ostdeutscher und Leiter der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) in Bonn. Er warnt jedoch vor dem Irrglauben, hier »mit schnellen Maßnahmen Abhilfe schaffen« zu können. Politische Bildung sei »kein Ad-hoc-Instrument zur Krisenbekämpfung«. Für Sachsen verweist Krüger auf eine regionale Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung, die »eine sträfliche Vernachlässigung des Themas Rechtsextremismus im Schulunterricht« festgestellt hat. Erfreulich sei, dass »späte Einsicht« nunmehr dazu führe, politische Bildung wieder zum festen Bestandteil des Unterrichts in allen Schulformen« zu machen.
Politikunterricht galt in den Lehrplänen der ostdeutschen Länder lange als nachrangig, eine Folge auch der Erfahrungen mit teils einseitiger Indoktrination zu DDR-Zeiten. Viele Schulen gerade am alten Industriestandort Sachsen sind technisch und naturwissenschaftlich ausgerichtet, geisteswissenschaftliche Fächer wie umfassender Geschichtsunterricht oder Sozialkunde kommen eher zu kurz. Wilfried Schubarth, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Paderborn, fordert eine stärkere Behandlung gesellschaftlicher Schlüsselfragen wie Gerechtigkeit oder Minderheitenrechte. Die Fortbildung der Lehrkräfte zu Themen wie Gewalt, Mobbing und Rechtsextremismus müsse intensi- viert, die Lehrpläne »entrümpelt« werden. Denn Demokratiebildung braucht Zeit: Wenn es einen rassistischen oder sexistischen Übergriff auf dem Schulhof gibt, müssen Freiräume vorhanden sein, um das im Unterricht aufarbeiten zu können.
Politische Erziehung sei stets mühsam und funktioniere nur »kontinuierlich«, betont BpB-Leiter Krüger. Ereignisse wie in Chemnitz zeigten, dass »auch die Aktualität von Themen« und »Gegenwartsanker« bei der Pädagogik gegen rechts »eminent wichtig« seien. Die Angebote müssten »schneller als bisher auf Bedarf reagieren können«. Die Bundeszentrale hat deshalb ihre Präsenz in den sozialen Netzwerken verstärkt, etwa auf Videokanälen wie Youtube. Auch beim Thema Geschichtsbewusstsein und Vergangenheitsbewältigung setzt Krüger auf das Netz. Berichte von Zeitzeugen des Nationalsozialismus zum Beispiel würden zunehmend digital präsentiert, weil »kaum noch Überlebende der Shoah persönlich befragt werden können«.
Was also hilft Sachsen? Der Freistaat brauche nach fast 30 Jahren der Verharmlosung neonazistischer Aktivitäten dringend eine polarisierte Wertedebatte, eine »klare Kante gegen rechts«, wie SPD-Landeschef Dulig formuliert. Sein Koalitionspartner CDU stand in der Vergangenheit eher für das Wegschauen, für Ignoranz gegenüber der schleichenden Normalisierung demokratiefeindlicher Positionen im Alltag. Immerhin müssen Lehramtsstudierende an sächsischen Universitäten neuerdings ein verpflichtendes »Demokratiemodul« absolvieren. Dauerhafte Aufklärung der politischen Bildung in und außerhalb der Schulen ist nötig, wenn Chemnitz wirklich einen Wendepunkt markiert soll.
Politikunterricht galt in den Lehrplänen der ostdeutschen Länder lange als nachrangig.