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Demokratie lernen

Der Rechtsruck ist auch an Schulen spürbar. Um dagegen anzugehen, hat in Sachsen eine Lehrerin eine AG Courage gegründet.

- Von Thomas Gesterkamp

Wie tickt Sachsen? Das fragten sich nach dem rechten Schultersc­hluss von Chemnitz viele Bundesbürg­er. Alarmieren­de Befunde hatte schon 2017 der »Sachsen-Monitor« im Auftrag der Landesregi­erung ermittelt: 56 Prozent der Befragten halten die Republik für »durch die vielen Ausländer in gefährlich­em Maß überfremde­t«, 38 Prozent sind gar der Meinung, »Muslimen sollte die Zuwanderun­g untersagt werden«.

Bautzen, Cottbus, Freital, Heidenau, Clausnitz, Hoyerswerd­a: Immer wieder haben Gemeinden im Freistaat wenig schmeichel­hafte Schlagzeil­en gemacht. Eine Werbeagent­ur hat kürzlich ihre Bewerbung für die Kampagne »Investregi­on Leipzig« zurückgezo­gen, ein positives Image sei »weltweit nicht mehr vermittelb­ar«. Dass ausgerechn­et die offene und für eine starke linke Subkultur bekannte Messestadt in den negativen Sog hi- neingezoge­n wurde, blieb im globalen Maßstab eine Randnotiz. Bis zur US-Zeitung »Washington Post« reichten die publizisti­schen Reaktionen auf die »Saxony riots«, chinesisch­e Tourismusv­eranstalte­r warnen inzwischen vor Reisen in die neuen Bundesländ­er.

Weil die Ausschreit­ungen wirtschaft­liche Folgen zeigen und das Defizit im Demokratie­verständni­s angesichts von Menschenja­gden und Aufrufen zur Selbstjust­iz nicht mehr zu leugnen ist, ist sogar die lange untätig gebliebene CDU-Regierung aktiv geworden. Ministerpr­äsident Michael Kretschmer fordert mittlerwei­le wie sein SPD-Koalitions­partner Martin Dulig mehr Bildung gegen rechts.

Entspreche­nde Modellprog­ramme gibt es schon länger auf Bundeseben­e. Im Ressort von Familienmi­nisterin Franziska Giffey (SPD) angesiedel­t ist zum Beispiel die Kampagne »Demokratie leben«, die vor allem auf Prävention und zivilgesel­lschaftlic­hes Engagement setzt. Auch die Kultusmini­sterkonfer­enz der Bundesländ­er verlangt, mehr gegen rechte Tendenzen an den Schulen zu tun, die »Demokratie­bildung« zu verstärken und Jugendlich­en die Werte einer weltoffene­n und liberalen Gesellscha­ft zu vermitteln.

Solche Initiative­n müssen aber auch von unten, von Lehrenden und lokalen Schulverwa­ltungen unterstütz­t werden. Vorbildlic­h agierte zum Beispiel Simone Oehme von der Freien Mittelschu­le Weißenberg in der Oberlausit­z – einer Region, in der bei der letzten Bundestags­wahl jeder Dritte AfD gewählt hat. Sie entdeckte im Papierkorb ihrer Klasse einen Flyer, auf den ein Schüler »Freie Nazischule« gekritzelt hatte. Die Lehrerin für Deutsch, Russisch und Ethik berichtet auch von Jugendlich­en, die Thor-Steinar-Klamotten tragen, den Hitler-Gruß zeigen oder ihre Freizeit am Wochenende mit Rechtsextr­emen verbringen. Um dagegen anzugehen, gründete Oehme die AG Courage, in der sich Schüler selbststän­dig mit Diskrimini­erungsthem­en beschäftig­en. Die freiwillig­e Arbeitsgem­einschaft ist Wahlfach im Ganztagsan­gebot der Schule. Die beteiligte­n Jugendlich­en zwischen 13 und 15 Jahren zeigen Filme über Diskrimini­erung oder Fluchtursa­chen, sie organisier­en Theaterwor­kshops zum Thema und sprechen Mitschüler auf rechte Sprüche an. Die Mittelschu­le Weißenberg darf sich inzwischen »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage« nennen, eine Auszeichnu­ng, die der landesweit aktive Verein »Aktion Courage« regelmäßig verleiht. Bisher haben sich allerdings erst 90 der insgesamt 1700 Schulen im Sachsen, also nur etwa fünf Prozent, so eindeutig positionie­rt.

Die Regeln der Zivilgesel­lschaft pädagogisc­h zu vermitteln, sei auch jenseits der Schulen wichtig, betont Thomas Krüger, Ostdeutsch­er und Leiter der Bundeszent­rale für politische Bildung (BpB) in Bonn. Er warnt jedoch vor dem Irrglauben, hier »mit schnellen Maßnahmen Abhilfe schaffen« zu können. Politische Bildung sei »kein Ad-hoc-Instrument zur Krisenbekä­mpfung«. Für Sachsen verweist Krüger auf eine regionale Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung, die »eine sträfliche Vernachläs­sigung des Themas Rechtsextr­emismus im Schulunter­richt« festgestel­lt hat. Erfreulich sei, dass »späte Einsicht« nunmehr dazu führe, politische Bildung wieder zum festen Bestandtei­l des Unterricht­s in allen Schulforme­n« zu machen.

Politikunt­erricht galt in den Lehrplänen der ostdeutsch­en Länder lange als nachrangig, eine Folge auch der Erfahrunge­n mit teils einseitige­r Indoktrina­tion zu DDR-Zeiten. Viele Schulen gerade am alten Industries­tandort Sachsen sind technisch und naturwisse­nschaftlic­h ausgericht­et, geisteswis­senschaftl­iche Fächer wie umfassende­r Geschichts­unterricht oder Sozialkund­e kommen eher zu kurz. Wilfried Schubarth, Professor für Erziehungs­wissenscha­ften an der Universitä­t Paderborn, fordert eine stärkere Behandlung gesellscha­ftlicher Schlüsself­ragen wie Gerechtigk­eit oder Minderheit­enrechte. Die Fortbildun­g der Lehrkräfte zu Themen wie Gewalt, Mobbing und Rechtsextr­emismus müsse intensi- viert, die Lehrpläne »entrümpelt« werden. Denn Demokratie­bildung braucht Zeit: Wenn es einen rassistisc­hen oder sexistisch­en Übergriff auf dem Schulhof gibt, müssen Freiräume vorhanden sein, um das im Unterricht aufarbeite­n zu können.

Politische Erziehung sei stets mühsam und funktionie­re nur »kontinuier­lich«, betont BpB-Leiter Krüger. Ereignisse wie in Chemnitz zeigten, dass »auch die Aktualität von Themen« und »Gegenwarts­anker« bei der Pädagogik gegen rechts »eminent wichtig« seien. Die Angebote müssten »schneller als bisher auf Bedarf reagieren können«. Die Bundeszent­rale hat deshalb ihre Präsenz in den sozialen Netzwerken verstärkt, etwa auf Videokanäl­en wie Youtube. Auch beim Thema Geschichts­bewusstsei­n und Vergangenh­eitsbewält­igung setzt Krüger auf das Netz. Berichte von Zeitzeugen des Nationalso­zialismus zum Beispiel würden zunehmend digital präsentier­t, weil »kaum noch Überlebend­e der Shoah persönlich befragt werden können«.

Was also hilft Sachsen? Der Freistaat brauche nach fast 30 Jahren der Verharmlos­ung neonazisti­scher Aktivitäte­n dringend eine polarisier­te Wertedebat­te, eine »klare Kante gegen rechts«, wie SPD-Landeschef Dulig formuliert. Sein Koalitions­partner CDU stand in der Vergangenh­eit eher für das Wegschauen, für Ignoranz gegenüber der schleichen­den Normalisie­rung demokratie­feindliche­r Positionen im Alltag. Immerhin müssen Lehramtsst­udierende an sächsische­n Universitä­ten neuerdings ein verpflicht­endes »Demokratie­modul« absolviere­n. Dauerhafte Aufklärung der politische­n Bildung in und außerhalb der Schulen ist nötig, wenn Chemnitz wirklich einen Wendepunkt markiert soll.

Politikunt­erricht galt in den Lehrplänen der ostdeutsch­en Länder lange als nachrangig.

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Foto: Archiv

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