An der Pforte zum Erdinneren
Die Azoren – Europas Hawaii mit irischem Ambiente.
Magma und Lava, Feuer, Wind und Wasser: Inmitten des Atlantischen Ozeans haben die Elemente faszinierende Landschaften zwischen Himmel und Hölle modelliert. Wer glaubt, Europas Natur hält keine Überraschungen mehr bereit, sollte die Azoren besuchen.
Rund 1370 Kilometer Luftlinie von Lissabon entfernt erhebt sich Europas Außenposten über den Mittelatlantischen Rücken, einem Unterwassergebirge von 20 000 Kilometer Länge. Wie Perlen an einer Kette reihen sich Krater und Vulkankegel aneinander, die von sattgrünen Wiesen, bunten Blumen, Heidebüschen und dichten Lorbeerwäldern überzogen sind. Schroffe Klippen am Meer, blau und grün funkelnde Bergseen – man kann sich gar nicht sattsehen an diesen Wunderwerken der Natur. Überall begegnet man auf den neun Hauptinseln den Spuren urzeitlicher Gewalten. Manchmal fühlt man sich wie auf einer Zeitreise in die Entstehungsgeschichte unseres Planeten.
Unvergessen bleibt ein Abstieg auf der Insel Terceira in den Vulkanschlot Algar do Carvão. Als betrete man die Eingangspforte zum Inneren der Erde, führen Treppenstufen immer tiefer in den Schlot, durch den einst vulkanisches Gestein hinausgeschleudert wurde, aus dem die Inseln emporwuchsen. Bilder tauchen auf, die bereits im Kindesalter bei der Lektüre von Jules Vernes »Reise zum Mittelpunkt der Erde« durch den Kopf kreisten. Wie von Verne beschrieben, trifft man auf Moose, Farne und Flechten sowie Mineralablagerungen und Stalaktiten, die riesige Hohlräume in unterschiedlichsten Farbnuancen auskleiden.
»Von den 27 großen Vulkanen auf den Azoren sind noch 16 aktiv«, sagt der Vulkanologe Prof. Dr. João Carlos Nunes von der Universität São Miguel. »Als tot gelten sie erst, wenn sie 10 000 Jahre keine Lava mehr spuckten. Aber selbst die Aktiven sind ziemlich faul«, fügt er hinzu. Sie brechen selten aus, wie der Pico, dessen letzte Eruption 1718 stattfand. Ab und an stößt der mit 2351 Metern größte Berg Portugals, der nahezu die doppelte Höhe des Vesuvs erreicht, noch eine Rauchwolke aus. Ansonsten ist sein Gipfel eines der beliebtesten Wanderziele. »Es ist toll, von dort oben das Meer und die umliegenden Inseln zu betrachten«, schwärmt der Hüttenwirt am Startpunkt des Höhenweges, der Bergsteiger mit GPS-Geräten ausstattet. Die Mehrheit seiner Gäste kommt aus Deutschland.
20 Minuten sind es mit der Fähre von Madalena auf Pico bis zum benachbarten Horta auf der Insel Faial. An der Westküste Faials kämpfte sich der Vulkan Capelinhos erst 1957/58 an die Meeresoberfläche und vergrößerte das Inselterritorium. 2000 Menschen mussten damals umgesiedelt werden. Auf Faial gab es 1998 auch das letzte große Erdbeben, das nahe Horta ein ganzes Dorf einebnete. Dennoch ist Faial eine der beliebtesten Tourismusdestinationen auf den Azoren. Wanderwege mit prächtigen Aussichten führen zum Rand einer riesigen Caldera, ein Leuchtturm beherbergt ein äußerst interessantes Vulkaninfozentrum und erlaubt einen fantastischen Blick auf die Überreste der 1957er Eruption. An der Küste formen Wellen bizarre Felsenbrücken aus Lavagestein. In Horta selbst treffen sich Segler aus der ganzen Welt, die – wie schon die Weltentdecker im 15. Jahrhundert – bei der Überquerung des Atlantiks hier einen Zwischenstopp einlegen. Oft begegnet man ihnen im Restaurant des Weltumseglers Genuino Madruga. Dort gibt es die wohl besten Fischgerichte.
Genuino kennt die schönsten Ecken der Welt, würde aber Faial nie als Heimat aufgeben. »Sicher ist es riskant, auf einer Vulkaninsel zu leben«, räumt er ein, »aber die Vorzüge überwiegen. Der Golfstrom beschert uns ein ganzjährig angenehm warmes Klima, die Vulkanasche sorgt für fruchtbare Böden, und auf den kleinen Inseln lebt man in Ruhe und Sicherheit.« Auf der Nachbarinsel Pico gedeihen auf den mineralischen Böden seit Jahrhunderten traditionelle Rebsorten, aus denen ein besonders kräftiger Wein entsteht. Die kleinen, von Basaltsteinmauern umrahmten Felder hat die UNESCO zum Welterbe ernannt. Auch auf Terceira sind die landwirtschaftlichen Parzellen durch solche Mauern abgegrenzt. Wie in Irland grasen dort aber Kühe auf den sattgrünen Flurstücken, Meerblick inklusive. Man sagt, dass auf jeden Einwohner der Insel etwa dreieinhalb Kühe kommen. Milch, Butter, Rindfleisch und Käse sind neben Fischkonserven die Exportschlager der Azoren.
Auf São Miguel baut man sogar Ananas, Bananen, Tabak, Tee und Kaffee an. Der Clou auf São Miguel aber sind die Thermalquellen, die sich die Menschen in Heilbädern zunutze machen. Besonders heftig brodelt es in und um den kleinen Ort Furnas. Fumarolen lassen Dampfwolken aufsteigen, aus vielen Quellen sprudelt Wasser mit natürlicher Kohlensäure und mehrere Bäder versprechen in ihren Pools inmitten grüner Natur Linderung für Gicht, Kreislauf- und Hautkrankheiten. Wie ein Magnet ziehen die Quellen Besucher aus aller Welt an. Am nahen Vulkansee Lagoa das Furnas werden die Fumarolen gar als Kochstudio genutzt. In runden Löchern garen köstliche Gerichte aus Fleisch, Wurst, Gemüse und Süßkartoffeln für sechs bis acht Stunden bei circa 100 Grad. Die Leckerbissen, die man in Tonys Restaurant oder anderswo bei köstlichem Azorenwein genießen kann, zergehen auf der Zunge. Spätestens jetzt wird deutlich, dass Vulkane auch ein höllisches Vergnügen bereiten können.