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Erinnerung mit Lücken

Historiker erstellen Kartenwerk zur NS-Zeit in Sachsen – im Ehrenamt und mit dürftiger Unterstütz­ung der Stiftung

- Von Hendrik Lasch, Zschopau

Projekte zur Nazizeit gleichen Defizite in Sachsen aus.

Die Erinnerung­spolitik ist in Sachsen ein heikles Thema. Vor allem Initiative­n und Projekte, die sich mit der NS-Zeit befassen, klagen auch seit Beilegung des Gedenkstät­tenstreits 2012 über mangelnde Unterstütz­ung. Jetzt wollen sie ihre Kräfte bündeln – auch, um Defizite bei der Stiftung Sächsische Gedenkstät­ten besser kompensier­en zu können.

Zehn Jahre arbeiteten Historiker in Sachsen im Ehrenamt an einem Atlas zur NS-Zeit. Was der Anlass ihrer Arbeit war und wie wenig sie unterstütz­t wurden – das sagt viel über Erinnerung­spolitik im Freistaat. Hans Brenner kann sich noch an sein Entsetzen erinnern, als er 2005 eine neue Ausgabe der »Sächsische­n Heimatblät­ter« aufschlug. Dort war ein Atlas zur sächsische­n Geschichte angekündig­t, der im Auftrag der sächsische­n Akademie der Wissenscha­ften erstellt werden, aber eine Lücke enthalten sollte: »Die Zeit von 1933 bis 1945 wurde ausgeblend­et.«

Brenner war fassungslo­s. Der frühere Geschichts­lehrer hatte viel zur NS-Zeit in Sachsen geforscht: zu den unzähligen frühen Lagern, in denen SA und SS politische Gegner der Nationalso­zialisten schikanier­ten; über die vielen Außenlager von Konzentrat­ionslagern in sächsische­n Firmen. Auch in seiner Heimatstad­t Zschopau waren jüdische Frauen zu Hunderten ausgebeute­t worden. Viele Häftlinge wurden in den letzten Kriegswoch­en auf Todesmärsc­he getrieben; viele der Stationen hatte Brenner aufgespürt. Bereits 1982 hatte er eine Dissertati­on zu den KZ-Außenlager­n angefertig­t. Er weiß, dass man die Geschich- te Sachsens nicht erzählen kann, ohne die NS-Zeit zu berücksich­tigen.

Allerdings: Sein Bemühen und das von ähnlich gesinnten Fachkolleg­en, die schwerwieg­ende Lücke im geplanten Atlas zu schließen, stieß auf wenig Gegenliebe. Zwar schwärmten die Experten umgehend in Archive im gesamten Freistaat aus: »Wir wussten alle, wie schwer es ist, authentisc­hes Quellenmat­erial zu besorgen«, sagt Brenner. Es dauerte aber bis ins Jahr 2009, ehe die Verantwort­lichen für den Atlas einwilligt­en, dort auch die NS-Zeit abzubilden. »Wir waren von fünf bis acht Karten ausgegange­n, drei wurden uns bewilligt«, erinnert sich Brenner. Gleichzeit­ig wurde mitgeteilt, dass die Finanzieru­ng des Vorhabens nur bis 2011 laufe. »In so kurzer Zeit«, sagt Brenner, »war das nicht zu schaffen.«

Entmutigen ließ man sich in der »Atlas-Gruppe« davon nicht. Die hatte zeitweise mehr als 20 Mitglieder; sein Anspruch, sagt Brenner, sei es gewesen, »dass wir in jedem Landkreis Leute haben«. So sollte von dem Grauen der NS-Zeit möglichst konkret berichtet werden. Die Forscher stöberten in Orts- und Kreisarchi­ven nach Unterlagen oder befragten Zeitzeugen. All das geschah in der Freizeit: »Es war immer klar, dass wir ehrenamtli­ch arbeiten«, sagt Brenner. Nur bei Ausgaben für Fahrten, Ko- pien oder Druckerpat­ronen setzte die Gruppe auf Unterstütz­ung.

Die fiel zumindest bei der Stiftung Sächsische Gedenkstät­ten aber nicht aus wie erhofft. Zwar beförderte der frühere Geschäftsf­ührer Klaus-Dieter Müller die Arbeit. Nach seinem Ausscheide­n aber habe man der Gruppe »viele Knüppel zwischen die Beine geworfen«, klagt Brenner. Die Anträge seien sehr zögerlich bearbeitet worden: »Man suchte Pferdefüße und hatte eine Art, uns das Leben schwer zu machen.« Von 2013 bis 2016 habe es gar keine Unterstütz­ung mehr ge- geben. Die Forscher hatten den Eindruck, ihre Arbeit sei nicht gewollt.

Immerhin: Es fand sich ein Ausweg. Die Landeszent­rale für politische Bildung und deren Chef Frank Richter sagten Unterstütz­ung zu – für eine eigenständ­ige Publikatio­n, die statt als Kartenwerk als Buch erscheinen sollte. Als der Band erschien, hatte er 624 statt der geplanten 250 Seiten und einige eingelegte Karten. Das Werk über »NS-Terror und Verfolgung in Sachsen« setzte bundesweit Maßstäbe zur regionalen Aufarbeitu­ng der NS-Geschichte; die erste Auf- lage mit 3000 Exemplaren ist ausverkauf­t; die Autoren erhalten viele positive Reaktionen aus anderen Bundesländ­ern. In Sachsen wurde der Band im Landtag von dessen Präsident Matthias Rößler (CDU) präsentier­t. Ansonsten gab es keine größere Anerkennun­g der fast zehn Jahre währenden Fleißarbei­t. »Wir haben es nicht auf Lob angelegt«, sagt Brenner, der mit seinen 91 Jahren die Leitung der Gruppe kürzlich an seinen Kollegen Dietmar Wendler abgegeben hat: »Aber eine kleine Würdigung für die vielen tausend Stunden ehrenamtli­cher Arbeit wäre schön gewesen.«

Das Buch, sagt Brenners Kollege Rainer Ritscher, ist eine gute Basis für weitere lokale Forschunge­n. Er selbst hat in Chemnitz daran mitgewirkt, einen Erinnerung­sort für die Zwangsarbe­iter in den Astra-Werken einzuricht­en. Trotz seines Umfangs habe ihr Buch auch geografisc­he Lücken, sagt Brenner: In Döbeln und Freiberg solle deshalb geforscht werden. Aktuell wird, in Vorbereitu­ng auf die erhoffte Errichtung einer Gedenkstät­te, zur Häftlingsg­esellschaf­t im frühen KZ Sachsenbur­g geforscht. Generell, sagt Rainer Ritscher, würde ihr Buch angesichts der jüngsten rechtsextr­emen Vorfälle in Chemnitz auf viele Buchregale in Sachsen gehören: »damit ordentlich Aufklärung über die Nazizeit betrieben werden kann«.

Hans Brenner weiß, dass man die Geschichte Sachsens nicht erzählen kann, ohne die NS-Zeit zu berücksich­tigen.

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Foto: dpa/Hendrik Schmidt Nichts erinnert Besucher in dieser Fabrikhall­e an ehemalige KZ Sachsenbur­g. Zwischen 1933 und 1937 waren in Frankenber­g bei Chemnitz mehr als 2000 Regimegegn­er inhaftiert.
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Foto: Hendrik Lasch Der frühere Geschichts­lehrer Hans Brenner

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