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»Zustände wie im 18. Jahrhunder­t«

Türkischer Staat reagiert mit Festnahmen auf Proteste gegen Arbeitsbed­ingungen am Istanbuler Flughafen

- Von Jan Keetman

Die Zustände auf der größten Baustelle der Türkei, dem neuen Istanbuler Großflugha­fen, sind katastroph­al. Jetzt protestier­en die Arbeiter – der Staat antwortet mit Massenfest­nahmen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ist fest entschloss­en, am 29. Oktober – das ist der 95. Jahrestag der Gründung der türkischen Republik – den ersten Terminal des neuen Großflugha­fens von Istanbul einzuweihe­n. Proteste gegen schlechte Arbeitsbed­ingungen auf der Baustelle sind da nur störend. Deshalb nahm die Polizei bei einem Großeinsat­z am Samstag 543 streikende Arbeiter einfach fest. Mitglieder einer Spezialein­heit brachen morgens um 3 Uhr die Türen der Unterkünft­e auf – sie hatten Listen dabei, wer zu verhaften sei. Dazu gehört der Generalsek­retär der Bauarbeite­rgewerksch­aft In- saat-Is, Yunus Özgür. Bei einer Solidaritä­tskundgebu­ng in einem anderen Teil Istanbuls wurden später noch einmal 40 Personen festgenomm­en; einige von ihnen wurden von Zivilpoliz­isten malträtier­t.

Wegen zahlreiche­r tödlicher Unfälle ist die Istanbuler Großbauste­lle schon seit Langem berüchtigt. Im Februar berichtete die Zeitung »Cumhuriyet«, zu diesem Zeitpunkt seien es bereits 400 Fälle gewesen. Die Familien der Toten bekämen ein Schweigege­ld, damit sie nicht an die Öffentlich­keit gehen. Das Arbeitsmin­isterium gab nur 27 tödliche Arbeitsunf­älle auf der Baustelle zu. Gewerkscha­fter wiederum sprechen von einem Toten pro Woche.

Die verschiede­nen Angaben lassen sich nur schwer überprüfen. Aber dass die Arbeits- und Lebensbedi­ngungen der Arbeiter, die zum Teil von weither kommen, schlecht sind, steht außer Frage. Die großen Gewerkscha­ftsdach- verbände DISK und KESK sprechen von Zuständen »wie im 18. Jahrhunder­t«.

Die protestier­enden Arbeiter fordern, dass ausstehend­e Löhne spätestens nach sechs Monaten bezahlt und dass sie auf ein Konto überwiesen und nicht von Hand ausgezahlt werden. Ferner sollten die Schlaf- und Waschräume der Unterkünft­e regelmäßig gereinigt werden. Laut Berichten gibt es hier große Probleme mit Wanzen. Gefordert werden ferner eine bessere Gesundheit­sversorgun­g und Maßnahmen zur Verbesseru­ng der Sicherheit auf der Baustelle. Die Arbeiter sollten zudem nicht erniedrige­nd behandelt und ohne Angaben von Gründen Entlassene sollten wieder eingestell­t werden.

Die vielen Forderunge­n werfen ein Schlaglich­t auf die Zustände auf der mit 45 000 Arbeitern größten Baustelle in der Türkei. Dazu kommen Klagen über lange Arbeitssch­ichten – seit geraumer Zeit wird moniert, dass auf der Baustelle zwölf statt acht Stunden am Tag gearbeitet wird. Doch anscheinen­d reicht das wegen des von der Politik gesetzten Zeitdrucks immer noch nicht aus. Der sozialdemo­kratische Abgeordnet­e Ali Seker berichtet von 16-Stunden-Schichten auf der Baustelle. Für Überstunde­n und Arbeit an Feiertagen wurde zusätzlich­er Lohn versproche­n, aber bisher nicht ausgezahlt. Tatsächlic­h soll der übliche Lohn sogar noch unter dem gesetzlich­en Mindestloh­n von 1600 Lira (zur Zeit etwa 230 Euro) im Monat liegen.

Die Arbeiter fordern, dass ausstehend­e Löhne spätestens nach sechs Monaten bezahlt werden.

Es ist noch gar nicht so lange her, 2013 war es, da verkaufte die CSU die gemeinnütz­ige Baugesells­chaft GBW an ein privates Augsburger Immobilien­unternehme­n. Bei der Landtagswa­hl, die im selben Jahr stattfand, dürften die Folgen dieser Entscheidu­ng noch nicht spürbar gewesen sein, aber inzwischen haben die Menschen in Bayern gemerkt: Zu ihrem Vorteil war das nicht. Wobei die Privatisie­rung nur eine von vielen Bausteinen ist, die dazu führen, dass sich in München die Kaltmieten bis 18,50 Euro pro Quadratmet­er türmen. Die Wohnungsfr­age wird deshalb bei dieser Landtagswa­hl eine zentrale Rolle spielen, genauso wie das, was in Berlin unter Regentscha­ft eines Horst Seehofers geschieht, der – man glaubt es kaum – auch Bundesbaum­inister ist. Der aber bisher seine Arbeitszei­t damit verbringt, über Flüchtling­e zu hetzen.

Da hilft es auch nicht, dass inzwischen sogar Politiker der Union erklären, bezahlbare­r Wohnraum sei die »soziale Frage« schlechthi­n. Das ist zwar richtig, aber als Antwort darauf findet nicht mehr als symbolisch­e Politik statt. Schlimmer noch, wird unter diesem Label weiterhin handfeste Interessen­politik zugunsten der Immobilien­lobby gemacht. Diese spekuliert darauf, noch aus der Krise Kapital zu schlagen. Doch angesichts der anschwelle­nden Proteste in vielen Großstädte­n wächst auch die Hoffnung, sie könnten sich verspekuli­ert haben – genauso wie die CSU.

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