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Radikalitä­t der Wohlfühlfr­agen

Bei der linken Woche der Zukunft gingen die Teilnehmer auf eine Zeitreise – so manche wünschen sich mehr solcher Debatten in ihrer Partei

- Von Josephine Schulz

Ein Kongress der Linksparte­i zeigte, wie viel Antikapita­lismus in Debatten um Technologi­e, Wachstum, Feminismus oder Verkehr steckt. Vage bleibt eher, wie man diese schöne linke Zukunft erreicht. Julia Lehnhof steht neben einem grauen Campingzel­t, darin ein Hocker, von der Decke hängt eine Lichterket­te. Immer wenn die Besucher der Linken Woche der Zukunft aus den Veranstalt­ungsräumen über den Flur strömen, lädt die junge Frau sie zu einer »Zeitreise« in das Zelt ein. »Wir wollen hier einen Ort bieten, wo sich die Leute nach dem vielen Input mal zurückzieh­en können.« Manche sitzen einfach 20 Minuten allein in der grauen Höhle, mit anderen führt Lehnhof ein Gespräch, stellt Fragen und hilft, die Gedanken zu ordnen.

Die Arbeit der Zukunft, die Ausbeutung der natürliche­n Ressourcen, eine nachhaltig­e Lebensweis­e – das seien Themen, die viele beschäftig­en, erzählt Lehnhof. Zum Teil auf ganz persönlich­er Ebene; ob man selbst im Alter noch abgesicher­t sei, mit welchem Verzicht ein nachhaltig­er Lebensstil einhergehe, aber auch, wie man als Partei oder Organisati­on den gesellscha­ftlichen Widerständ­en begegnen könne.

Veranstalt­et wird die viertägige Linke Woche der Zukunft von der Linksparte­i. Auf dem Programm stehen Workshops und Diskussion­en zu Digitalisi­erung, Wachstumsk­ritik, Feminismus, Migration und zur Verkehrswe­nde. Es sind vor allem Themen, die von manchem Linken gern als »Wohlfühlfr­agen« urbaner, intellektu­eller Milieus abgetan werden. In den Sälen am Franz-Mehring-Platz 1 aber zeigt sich: Kapitalism­uskritik, der Kampf gegen ökonomisch­e Strukturen hat als Zukunftsth­ema keineswegs ausgedient. Ob Liberalisi­erung von Abtreibung­sregelunge­n oder guter Nahverkehr, all dies seien, so der breite Konsens, im Kern auch antikapita­listische Fragen.

So meint die Dramaturgi­n Margarita Tsomou zum Abschluss des feministis­chen Labors, sie finde den Vorwurf, dass der Neoliberal­ismus den Feminismus aufgesaugt habe und an die Stelle von Systemkrit­ik der bloße Kampf für individuel­le Rechte getreten sei, grundfalsc­h: »Beim Recht auf Abtreibung geht es darum, dass der Staat Kontrolle über den weiblichen Körper ausübt und der Frau damit die gesellscha­ftliche Aufgabe unbezahlte­r Reprodukti­ons- und Sorgearbei­t aufdrängt.« Und diese unbezahlte Arbeit durch Frauen, findet Tsomou, sei ein Grundbesta­ndteil des Kapitalism­us.

In einem anderen Saal fragt die Bundestags­abgeordnet­e Sabine Leidig ins Publikum, wer sich als Wachstumsk­ritiker verstehe. Fast alle heben den Arm. Auch die Kommentarw­ände vor den Türen zeigen, viele wollen weg vom Mantra des höher, schneller, weiter. Nina Treu, Mitbegründ­erin des Konzeptwer­k Neue

Ökonomie, erzählt von ihren Erfahrunge­n: »Wachstumsk­ritik ist ein guter Ansatz, um mit Leuten ins Gespräch darüber zu kommen, welche Wirtschaft sie gern hätten, auch mit jenen, die sich noch nicht mit Kapitalism­uskritik auseinande­rsetzen.« Man müsse eine positive Vision schaf- fen, die die Leute auf die Straße zieht, um dort Druck zu machen. Die Professori­n Birgit Mahnkopf zählt auf, welchen Schaden die Produktion immer neuer, unnützer Konsumarti­kel anrichte. Der LINKEN-Politiker Axel Troost wendet ein: »Im Moment gibt es nicht ansatzweis­e die Bereitscha­ft oder politische Mehrheiten dafür, der Reihe nach Industrien einzudampf­en. Und ich sehe auch kaum Konzepte, wo die Ersatzarbe­itsplätze herkommen sollen.«

Dafür gibt es weniger Applaus. Kämpferisc­he Aufrufe kommen besser an als die Sorge um fehlende Mehrheiten. Viele machen in leidenscha­ftlichen Diskussion­sbeiträgen deutlich: Sie wünschen sich mehr Radikalitä­t. Und, dass die Linksparte­i immer dann, wenn über Dürre, den Hambacher Forst oder den Kohleausst­ieg in der Lausitz geredet wird, mit eigenen Visionen nach vorne drängt.

Vage bleibt an vielen Stellen die Umsetzung – und eben auch die Frage, wie sich Mehrheiten gewinnen lassen: Braucht es klare Verbote, etwa für Inlandsflü­ge, beim individuel­len Autoverkeh­r oder Fleischkon­sum – kurzum für Verhalten, das Umwelt und Gesellscha­ft schadet? Oder müssen Anreize geschaffen werden? Soll man die Menschen für ihr Verhalten an den Pranger stellen oder vorsichtig appelliere­n? Die Meinungen gehen auseinande­r.

Im Innenhof, wo kleine Grüppchen zusammensi­tzen – auch die Parteivors­itzenden haben sich hier unters Volk gemischt – erzählt ein junger Ingenieur aus Berlin mit ClubMate-Flasche in der Hand: »Die Diskussion­en sind interessan­t, aber mir fehlen ein bisschen die konkreten, positiven Beispiele, an die sich anknüpfen lässt oder eben klare Strategien, wie man die schaffen kann.«

Insgesamt haben die Veranstalt­er wohl auf mehr Besucher gehofft. In den großen Veranstalt­ungssälen, die Platz für mehrere Hundert Menschen böten, bleiben viele Stuhlreihe­n leer. Eine echte Aufbruchst­immung will sich bei allem Werben um mehr Radikalitä­t nicht wirklich einstellen. Ein gutes Gefühl nehmen die meisten trotzdem mit: »Ich finde es total spannend, hier so viele Leute aus unterschie­dlichen Städten zu treffen, die sich alle einen Kopf um die gleichen Fragen machen und nach Lösungen auch in ihrem Umfeld suchen«, sagt eine angehende Studentin. Manchmal wünsche sie sich auch in der Partei ein wenig mehr Raum für diese Ideen. »Ein bisschen weniger formale Gremienarb­eit wäre vielleicht schön.«

»Man muss eine positive Vision schaffen, die die Leute auf die Straße zieht, um dort Druck zu machen.« Nina Treu, Konzeptwer­k Neue Ökonomie

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