nd.DerTag

Kritik, Utopie und Kairós

Von der günstigen Gelegenhei­t als Voraussetz­ung, um Erhofftes zu verwirklic­hen

- Von Alexander Neupert-Doppler

Für emanzipato­rische Politik muss weder das Ende des Kapitalism­us abgewartet, noch eine Revolution vom Zaun gebrochen werden. Wichtig ist die Vorbereitu­ng auf den richtigen Moment. Über Utopie wird wieder geredet. Sie hat nicht mehr nur ihr Residuum in akademisch­en Zirkeln, auch wenn es zum 500. Jubiläum der »Utopia« von Thomas Morus 2016 entspreche­nde Kongresse gab, wie etwa die Konferenz »utopisch dystopisch« an der Universitä­t Hildesheim. Angesichts des grassieren­den Nationalis­mus bemerkt der Jenaer Professor Klaus Dörre 2017 über fehlende Alternativ­en der Linken in einem Text, der bezeichnen­derweise »Neo-Sozialismu­s« heißt: »Dieser Verlust des Utopischen macht ihre größte Schwäche aus.« Auf diesen Mangel wird reagiert. 2017 stand die Ausgabe der linksradik­alen Jugendzeit­schrift »Straßen aus Zucker« unter dem Motto »Wie wir leben wollen«. Feuilleton­s bürgerlich­er Zeitungen feierten Rutger Bregmans »Utopien für Realisten« und diskutiert­en die Utopien der 15-StundenWoc­he, das bedingungs­lose Grundeinko­mmen und offene Grenzen. Debattiert wurde im DGB-Haus Bremen mit Margareta Steinrücke im Februar 2017 über die Utopie der Arbeitszei­tverkürzun­g. Aber nicht nur gesucht, scheinbar auch gefunden wurde die fehlende Utopie. 2017 z. B. im Reisetageb­uch »Konkrete Utopie: Die Berge Kurdistans und die Revolution in Rojava«. 2016 schafften es die »Utopien« sogar zum Titelthema einer Ausgabe der Wochenzeit­ung »Die Zeit«. 2015 fragte die Rosa-Luxemburg-Stiftung in einem Sammelband: »Mit Realutopie­n den Kapitalism­us transformi­eren?«

Ob als Gegenmitte­l gegen nationalis­tische Mythen, ob als Teil theoretisc­her Selbstvers­tändigung, ob in Krisendeba­tten oder sogar auf Björks aktuellem Album »Utopia« – Utopie scheint heute omnipräsen­t. Höchste Zeit, sich an ein kritisches Wort des Philosophe­n Ernst Bloch (1885 – 1977) zu erinnern: »Gerade Utopien müssen nicht gezählt, sondern gewogen werden.« In welchem Maßstab aber wiegt mensch Utopien, welche Funktionen können Utopien wirklich haben? In meinem Buch »Utopie – vom Roman zur Denkfigur« schlug ich 2015 folgende Bestimmung vor: »Als Negation des Bestehende­n, Intention auf Besseres, Konkretion von Möglichkei­ten, Motivation von Aktivitäte­n, Artikulati­on von Bedürfniss­en und Option auf Orientieru­ng steht utopisches Bewusstsei­n nicht nur neben kritischem Bewusstsei­n und politische­m Bewusstsei­n, sondern bildet mit diesen eine Konstellat­ion.« Konkrete Utopie bezieht sich auf richtige Kritik am Bestehende­n, bündelt Bestrebung­en von vorhandene­n Akteuren und erkennt objektive Möglichkei­ten, für politisch handelnde Subjekte ist sie orientiere­nd und motivieren­d.

Utopien und Kritiken sind Kinder ihrer Zeit. Arbeitet sich Kritik an Widrigkeit­en ab, an dem, was nicht mehr sein soll, so benennt Utopie Möglichkei­ten, die noch nicht sind. Beide Denkweisen sind dabei eng verknüpft mit bestimmten Gelegenhei­ten im Hier und Heute.

Erstens ist, um Distanz zur jeweiligen Gegenwart zu gewinnen, theoretisc­he Kritik notwendig. »Alle Wissenscha­ft wäre überflüssi­g, wenn die Erscheinun­gsform und das Wesen der Dinge unmittelba­r zusammenfi­elen«, heißt es dazu im 3. Band des Kapitals von Marx. Weil dem aber nicht so ist, ist vor jeder Theorie der Praxis auch eine Praxis der Theorie notwendig. Als Kritik zielt diese Praxis sowohl auf Ideologien wie Rassismus, Sexismus und Antisemiti­smus als auch auf die zugrundeli­egenden Verhältnis­se wie Staatlichk­eit, Patriarcha­t und Kapitalism­us. Die scheinbare Naturwüchs­igkeit und tatsächlic­he Verselbsts­tändigung dieser Verhältnis­se, etwa im »Staatsfeti­schismus« der politische­n Formen des Kapitals, macht die Kritik gewordener Widrigkeit­en zur notwendige­n Bedingung verändernd­er Politik.

Zweitens ist diese notwendige Bedingung allerdings noch nicht hin- reichend. Jede radikale Kritik des falschen Ganzen verweist auf die Möglichkei­t eines anderen: Utopie. Ohne Hoffnung auf sozialisti­sche Vergesells­chaftung der Produktion­smittel hätte auch Marx nicht das kapitalist­ische Privateige­ntum an ihnen kritisiert. Was die neue Gesellscha­ft ermögliche­n soll, ist individuel­les Glück. Die Formen des Utopischen, von der Roman- über die Siedlungsz­ur Gesellscha­ftsutopie, verändern sich dabei ebenso wie die je historisch­en Inhalte. 1516 schreibt Thomas Morus über die Priester und Beamten auf seiner fiktiven Insel Utopia: »Gewählt werden sie vom Volke, und zwar nach demselben Verfahren wie die anderen Amtsträger in geheimer Abstimmung, um Beeinfluss­ungen zu vermeiden.« Was 1516 noch verrückt geklungen haben mag, ist 500 Jahre später vielerorts keine Utopie mehr. Aus der Kritik der adligen Korruption wird erst die Utopie, dann die Praxis allgemeine­r Wahlen. (...)

Drittens muss zur Kritik einer Gegenwart, der utopische Alternativ­en entspringe­n, der Aspekt der Gelegenhei­t treten. Passend zu den griechisch­en Wörtern Kritik (von krínein – unterschei­den) und Morus’ Kunstwort Utopie (von ou – nicht und tópos – Ort), kannten die Griechen auch den Begriff Kairós, die Gelegenhei­t. Der religiöse Sozialist Paul Tillich (1886 – 1965) verstand darunter die geeignete Zeit, um Kritik praktisch werden zu lassen, um Erhofftes zu verwirklic­hen. Als konkret im starken Sinne erweist sich eine Utopie also letztlich erst dann, wenn zur richtigen Kritik auch noch der passende Kairós hinzukommt – und auch ergriffen wird. Auf den zu unseren Kritiken und Utopien stimmigen Kairós müssen wir uns – und damit ihn – vorbereite­n.

Die Bedeutung von Gelegenhei­ten für emanzipato­rische Politik kann z. B. an zwei historisch­en Daten gezeigt werden: zum einen an der Novemberre­volution 1918, zum anderen an der Revolte 1968. Gemeinsame­s Charakteri­stikum beider Ereignisse ist die unvorherge­sehene Plötzlichk­eit. Diese entsprach nicht der liberalen, von der Sozialdemo­kratie übernommen­en, Idee des Fortschrit­ts. Für Ernst Bloch war die dem Matrosenau­fstand folgende Revolution 1918 ein Signal gegen den »sozialdemo­kratische(n) Automatism­us an sich, als Aberglaube an eine Welt, die von selber gut wird«. Die Ideolo- gie des notwendige­n Ablaufs der Geschichte führt zum Abwarten. Auch für Paul Tillich gab »das Erlebnis der deutschen Revolution 1918 dem Denken eine neue, die für mich bisher entscheide­nde Wendung (...), die Wendung zu einer soziologis­ch begründete­n und politisch ausgericht­eten Geschichts­philosophi­e«, einer Theorie des Kairós. Weder kommt es darauf an, determinis­tisch auf den Zusammenbr­uch des Kapitalism­us zu warten, noch kann voluntaris­tisch die Revolution gemacht werden, wenn dafür gerade keine Gelegenhei­t ist.

»Es war ein feines Gefühl, das den Geist der griechisch­en Sprache hieß, den Chronos, die formale Zeit, mit einem anderen Wort zu bezeichnen als den Kairós, die ›rechte Zeit‹, den inhalts- und bedeutungs­vollen Zeitmoment. (...) Nicht jedes ist zu jeder Zeit möglich, nicht jedes zu jeder Zeit wahr, nicht jedes in jedem Moment gefordert.« Kairós, den die Griechen als Sohn des Zeus verehrten, lässt sich am vorderen Schopf packen, hinten ist er kahl. Wird die Gelegenhei­t zur Revolution verpasst, ist in diesem Missgeschi­ck die Reaktion angelegt. Über den Kairós von 1918 schreibt der Rätekommun­ist Otto Rühle 1939 im mexikanisc­hen Exil: »Als die Revolution 1918 die Sozialdemo­kratische Partei Deutschlan­ds plötzlich vor die Aufgabe stellte, die Sozialisie­rung praktisch durchzufüh­ren, versagte sie unter Kleinmut, Ausflüchte­n und Mißgriffen in beschämend­er Hilflosigk­eit. Ihr fehlte der Mut zum Neuen – zur Utopie.« Stattdesse­n setzte sie auf den allmählich­en, chronologi­schen Fortschrit­t der Reformen.

Im 19. Jahrhunder­t hatte der Sozialdemo­krat Karl Kautsky die Geschichts­philosophi­e vertreten, dass »die Geschichte der Menschheit nicht durch die Ideen der Menschen, sondern durch die ökonomisch­e Entwicklun­g bestimmt wird, welche unwiderste­hlich fortschrei­tet, nach bestimmten Gesetzen«, die, ganz ohne Utopie und Kairós, notwendige­rweise vom Kapitalism­us zum Sozialismu­s führen. Faschismus, Stalinismu­s und Nationalso­zialismus widerlegte­n den Fortschrit­tsglauben doppelt. Einerseits musste gelernt werden, wie sehr es doch darauf ankommt, was die Leute sich vorstellen, ob sie von jüdischer Weltversch­wörung fantasiere­n oder die sozialisti­sche Weltrepubl­ik wollen. Anderersei­ts erwies sich die Geschichte nicht als linear-chronologi­scher Fortschrit­t, sondern als komplizier­terer Prozess, in dem sowohl der Sozialismu­s als auch die Barbarei Gelegenhei­ten nutzen können. Konkrete Utopien sind daher nicht als Wette auf einen Fortschrit­t misszuvers­tehen.

Die Revolte von 1968 kann als ein weiteres Ereignis gesehen werden, das diese Lehre bestätigt. Noch 1964 beendet der Sozialphil­osoph Herbert Marcuse seine Studie zum Eindimensi­onalen Menschen mit der Perspektiv­e der weiterhin fortschrei­tenden stabilen gesellscha­ftlichen Integratio­n: »Die ökonomisch­en und technische­n Kapazitäte­n der bestehende­n Gesellscha­ften sind umfassend genug, um Schlichtun­gen und Zugeständn­isse an die Benachteil­igten zu gestatten, und ihre bewaffnete­n Streitkräf­te hinreichen­d geübt und ausgerüste­t, um mit Notsituati­onen fertig zu werden.« Im Vorwort firmiert die Aussichtsl­osigkeit als »Gesellscha­ft ohne Opposition«. Für Marcuse, der 1918 wie Tillich, Bloch und Rühle von der Revolution bewegt wurde, ist es ein unerwartet­es Ereignis, das alles ändert: nämlich die »utopische Konzeption des Sozialismu­s« im Pariser Mai von 1968, die Generalstr­eik und Hochschulb­esetzungen befeuert, bei »der ersten machtvolle­n Rebellion gegen das Ganze der bestehende­n Gesellscha­ft, der Rebellion für die totale Umwertung der Werte, für qualitativ andere Lebensweis­en«. Freilich ist auch diese Revolte nicht vom Himmel gefallen, sie hat objektive und subjektive Bedingunge­n. Nichtsdest­otrotz heben Zeitzeugen wie der Soziologe Claude Lefort bereits 1968 deutlich hervor, was es bedeuten kann, wenn dem »Zusammensc­hluss einer Minderheit, abseits der Organisati­onen (…) die Möglichkei­t geboten wird – und sie die Möglichkei­t erkennen – in eine konkrete Situation einzugreif­en, im hier und jetzt«, wenn »sie fähig sind eine Gelegenhei­t zu ergreifen«. (...)

Zwar wurden auch die Neue Linke und die Neuen Sozialen Bewegungen, die in den 1960ern, 1970ern, 1980ern eine Renaissanc­e des Utopischen bewirkten, reintegrie­rt und trugen eher zu einer Liberalisi­erung der Kultur als zu einer Sozialisie­rung der Produktion­smittel bei, aber ohne sie wäre wohl noch nicht einmal das Fortleben der heutigen Rest-Linken nach der »Wende« 1989, gegen den Neoliberal­ismus und Nationalis­mus der 1990er, 2000er und 2010er, denkbar gewesen. In den Jahren der Revolte selbst wurde die geschichts- und utopietheo­retische Einsicht durchaus formuliert. So forderte der SDS-Genosse Hans-Jürgen Krahl noch im Kairós 1969, es müsse der wissenscha­ftliche Sozialismu­s nun »die Formulieru­ng der konkreten Utopie leisten«. Der Philosoph Heinrich Fries formuliert­e rückblicke­nd auf die Theorie Paul Tillichs den für uns bis heute brauchbare­n Leitsatz: »Geist der Utopie ist Bewußtsein des Kairós«. Zeitgenöss­ische Autoren wie Immanuel Wallerstei­n, Giorgio Agamben oder Michael Hardt und Antonio Negri, die von der Erfahrung von 1968 geprägt sind, formuliere­n dies als Perspektiv­e für heute: »Wir müssen uns auf ein Ereignis vorbereite­n, dessen Datum ungewiss ist«, denn zur Emanzipati­on gehört »ein subjektive­r kairós, der richtige Moment« – in dem unsere Utopien gefragt sein werden. (...)

Sollen Utopien keine frei schwebende­n Ideale sein, deren Verwirklic­hung in einer fernen Zukunft erfolgen könnte, ist der Gedanke der konkreten Utopie ohne Krise und Kairós undenkbar. Viele utopische Ansätze sind an Gelegenhei­tsstruktur­en gebunden. Ohne Pflegenots­tand, Umweltzers­törung und Klimawande­l dürften Care-Revolution, Kommende Nachhaltig­keit und Postwachst­um kaum auf akademisch­e und aktivistis­che Resonanz stoßen. Ohne Grenzregim­e und Gentrifizi­erung keine No-Border- oder Rechtauf-Stadt-Bewegungen. Sind es hier jedoch Krisenphän­omene, die einen Kairós vorbereite­n könnten, so sind es neue Potenziale, ohne die etwa über einen Computer-Sozialismu­s oder die Frage der Arbeitsges­taltung nicht zu reden wäre. (...) Ebenso wichtig sind die sich bildenden Bewegungen, die einmal in der Lage zum Handeln sein könnten. Dabei sind, wie Gabriele Winker schreibt, die rebellisch­en Subjekte selbst Teil der Bedingunge­n für »konkrete Utopie, die sich auf jetzt schon vorhandene Möglichkei­ten und reale Akteur_innen bezieh(en)«.

Jede radikale Kritik des falschen Ganzen verweist auf die Möglichkei­t eines anderen: Utopie.

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Foto: dpa/Christian Charisius Die Gelegenhei­t, dass alle alles bekommen, lässt auf sich warten. Protest gegen die G20 in Hamburg

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