Kritik, Utopie und Kairós
Von der günstigen Gelegenheit als Voraussetzung, um Erhofftes zu verwirklichen
Für emanzipatorische Politik muss weder das Ende des Kapitalismus abgewartet, noch eine Revolution vom Zaun gebrochen werden. Wichtig ist die Vorbereitung auf den richtigen Moment. Über Utopie wird wieder geredet. Sie hat nicht mehr nur ihr Residuum in akademischen Zirkeln, auch wenn es zum 500. Jubiläum der »Utopia« von Thomas Morus 2016 entsprechende Kongresse gab, wie etwa die Konferenz »utopisch dystopisch« an der Universität Hildesheim. Angesichts des grassierenden Nationalismus bemerkt der Jenaer Professor Klaus Dörre 2017 über fehlende Alternativen der Linken in einem Text, der bezeichnenderweise »Neo-Sozialismus« heißt: »Dieser Verlust des Utopischen macht ihre größte Schwäche aus.« Auf diesen Mangel wird reagiert. 2017 stand die Ausgabe der linksradikalen Jugendzeitschrift »Straßen aus Zucker« unter dem Motto »Wie wir leben wollen«. Feuilletons bürgerlicher Zeitungen feierten Rutger Bregmans »Utopien für Realisten« und diskutierten die Utopien der 15-StundenWoche, das bedingungslose Grundeinkommen und offene Grenzen. Debattiert wurde im DGB-Haus Bremen mit Margareta Steinrücke im Februar 2017 über die Utopie der Arbeitszeitverkürzung. Aber nicht nur gesucht, scheinbar auch gefunden wurde die fehlende Utopie. 2017 z. B. im Reisetagebuch »Konkrete Utopie: Die Berge Kurdistans und die Revolution in Rojava«. 2016 schafften es die »Utopien« sogar zum Titelthema einer Ausgabe der Wochenzeitung »Die Zeit«. 2015 fragte die Rosa-Luxemburg-Stiftung in einem Sammelband: »Mit Realutopien den Kapitalismus transformieren?«
Ob als Gegenmittel gegen nationalistische Mythen, ob als Teil theoretischer Selbstverständigung, ob in Krisendebatten oder sogar auf Björks aktuellem Album »Utopia« – Utopie scheint heute omnipräsent. Höchste Zeit, sich an ein kritisches Wort des Philosophen Ernst Bloch (1885 – 1977) zu erinnern: »Gerade Utopien müssen nicht gezählt, sondern gewogen werden.« In welchem Maßstab aber wiegt mensch Utopien, welche Funktionen können Utopien wirklich haben? In meinem Buch »Utopie – vom Roman zur Denkfigur« schlug ich 2015 folgende Bestimmung vor: »Als Negation des Bestehenden, Intention auf Besseres, Konkretion von Möglichkeiten, Motivation von Aktivitäten, Artikulation von Bedürfnissen und Option auf Orientierung steht utopisches Bewusstsein nicht nur neben kritischem Bewusstsein und politischem Bewusstsein, sondern bildet mit diesen eine Konstellation.« Konkrete Utopie bezieht sich auf richtige Kritik am Bestehenden, bündelt Bestrebungen von vorhandenen Akteuren und erkennt objektive Möglichkeiten, für politisch handelnde Subjekte ist sie orientierend und motivierend.
Utopien und Kritiken sind Kinder ihrer Zeit. Arbeitet sich Kritik an Widrigkeiten ab, an dem, was nicht mehr sein soll, so benennt Utopie Möglichkeiten, die noch nicht sind. Beide Denkweisen sind dabei eng verknüpft mit bestimmten Gelegenheiten im Hier und Heute.
Erstens ist, um Distanz zur jeweiligen Gegenwart zu gewinnen, theoretische Kritik notwendig. »Alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen«, heißt es dazu im 3. Band des Kapitals von Marx. Weil dem aber nicht so ist, ist vor jeder Theorie der Praxis auch eine Praxis der Theorie notwendig. Als Kritik zielt diese Praxis sowohl auf Ideologien wie Rassismus, Sexismus und Antisemitismus als auch auf die zugrundeliegenden Verhältnisse wie Staatlichkeit, Patriarchat und Kapitalismus. Die scheinbare Naturwüchsigkeit und tatsächliche Verselbstständigung dieser Verhältnisse, etwa im »Staatsfetischismus« der politischen Formen des Kapitals, macht die Kritik gewordener Widrigkeiten zur notwendigen Bedingung verändernder Politik.
Zweitens ist diese notwendige Bedingung allerdings noch nicht hin- reichend. Jede radikale Kritik des falschen Ganzen verweist auf die Möglichkeit eines anderen: Utopie. Ohne Hoffnung auf sozialistische Vergesellschaftung der Produktionsmittel hätte auch Marx nicht das kapitalistische Privateigentum an ihnen kritisiert. Was die neue Gesellschaft ermöglichen soll, ist individuelles Glück. Die Formen des Utopischen, von der Roman- über die Siedlungszur Gesellschaftsutopie, verändern sich dabei ebenso wie die je historischen Inhalte. 1516 schreibt Thomas Morus über die Priester und Beamten auf seiner fiktiven Insel Utopia: »Gewählt werden sie vom Volke, und zwar nach demselben Verfahren wie die anderen Amtsträger in geheimer Abstimmung, um Beeinflussungen zu vermeiden.« Was 1516 noch verrückt geklungen haben mag, ist 500 Jahre später vielerorts keine Utopie mehr. Aus der Kritik der adligen Korruption wird erst die Utopie, dann die Praxis allgemeiner Wahlen. (...)
Drittens muss zur Kritik einer Gegenwart, der utopische Alternativen entspringen, der Aspekt der Gelegenheit treten. Passend zu den griechischen Wörtern Kritik (von krínein – unterscheiden) und Morus’ Kunstwort Utopie (von ou – nicht und tópos – Ort), kannten die Griechen auch den Begriff Kairós, die Gelegenheit. Der religiöse Sozialist Paul Tillich (1886 – 1965) verstand darunter die geeignete Zeit, um Kritik praktisch werden zu lassen, um Erhofftes zu verwirklichen. Als konkret im starken Sinne erweist sich eine Utopie also letztlich erst dann, wenn zur richtigen Kritik auch noch der passende Kairós hinzukommt – und auch ergriffen wird. Auf den zu unseren Kritiken und Utopien stimmigen Kairós müssen wir uns – und damit ihn – vorbereiten.
Die Bedeutung von Gelegenheiten für emanzipatorische Politik kann z. B. an zwei historischen Daten gezeigt werden: zum einen an der Novemberrevolution 1918, zum anderen an der Revolte 1968. Gemeinsames Charakteristikum beider Ereignisse ist die unvorhergesehene Plötzlichkeit. Diese entsprach nicht der liberalen, von der Sozialdemokratie übernommenen, Idee des Fortschritts. Für Ernst Bloch war die dem Matrosenaufstand folgende Revolution 1918 ein Signal gegen den »sozialdemokratische(n) Automatismus an sich, als Aberglaube an eine Welt, die von selber gut wird«. Die Ideolo- gie des notwendigen Ablaufs der Geschichte führt zum Abwarten. Auch für Paul Tillich gab »das Erlebnis der deutschen Revolution 1918 dem Denken eine neue, die für mich bisher entscheidende Wendung (...), die Wendung zu einer soziologisch begründeten und politisch ausgerichteten Geschichtsphilosophie«, einer Theorie des Kairós. Weder kommt es darauf an, deterministisch auf den Zusammenbruch des Kapitalismus zu warten, noch kann voluntaristisch die Revolution gemacht werden, wenn dafür gerade keine Gelegenheit ist.
»Es war ein feines Gefühl, das den Geist der griechischen Sprache hieß, den Chronos, die formale Zeit, mit einem anderen Wort zu bezeichnen als den Kairós, die ›rechte Zeit‹, den inhalts- und bedeutungsvollen Zeitmoment. (...) Nicht jedes ist zu jeder Zeit möglich, nicht jedes zu jeder Zeit wahr, nicht jedes in jedem Moment gefordert.« Kairós, den die Griechen als Sohn des Zeus verehrten, lässt sich am vorderen Schopf packen, hinten ist er kahl. Wird die Gelegenheit zur Revolution verpasst, ist in diesem Missgeschick die Reaktion angelegt. Über den Kairós von 1918 schreibt der Rätekommunist Otto Rühle 1939 im mexikanischen Exil: »Als die Revolution 1918 die Sozialdemokratische Partei Deutschlands plötzlich vor die Aufgabe stellte, die Sozialisierung praktisch durchzuführen, versagte sie unter Kleinmut, Ausflüchten und Mißgriffen in beschämender Hilflosigkeit. Ihr fehlte der Mut zum Neuen – zur Utopie.« Stattdessen setzte sie auf den allmählichen, chronologischen Fortschritt der Reformen.
Im 19. Jahrhundert hatte der Sozialdemokrat Karl Kautsky die Geschichtsphilosophie vertreten, dass »die Geschichte der Menschheit nicht durch die Ideen der Menschen, sondern durch die ökonomische Entwicklung bestimmt wird, welche unwiderstehlich fortschreitet, nach bestimmten Gesetzen«, die, ganz ohne Utopie und Kairós, notwendigerweise vom Kapitalismus zum Sozialismus führen. Faschismus, Stalinismus und Nationalsozialismus widerlegten den Fortschrittsglauben doppelt. Einerseits musste gelernt werden, wie sehr es doch darauf ankommt, was die Leute sich vorstellen, ob sie von jüdischer Weltverschwörung fantasieren oder die sozialistische Weltrepublik wollen. Andererseits erwies sich die Geschichte nicht als linear-chronologischer Fortschritt, sondern als komplizierterer Prozess, in dem sowohl der Sozialismus als auch die Barbarei Gelegenheiten nutzen können. Konkrete Utopien sind daher nicht als Wette auf einen Fortschritt misszuverstehen.
Die Revolte von 1968 kann als ein weiteres Ereignis gesehen werden, das diese Lehre bestätigt. Noch 1964 beendet der Sozialphilosoph Herbert Marcuse seine Studie zum Eindimensionalen Menschen mit der Perspektive der weiterhin fortschreitenden stabilen gesellschaftlichen Integration: »Die ökonomischen und technischen Kapazitäten der bestehenden Gesellschaften sind umfassend genug, um Schlichtungen und Zugeständnisse an die Benachteiligten zu gestatten, und ihre bewaffneten Streitkräfte hinreichend geübt und ausgerüstet, um mit Notsituationen fertig zu werden.« Im Vorwort firmiert die Aussichtslosigkeit als »Gesellschaft ohne Opposition«. Für Marcuse, der 1918 wie Tillich, Bloch und Rühle von der Revolution bewegt wurde, ist es ein unerwartetes Ereignis, das alles ändert: nämlich die »utopische Konzeption des Sozialismus« im Pariser Mai von 1968, die Generalstreik und Hochschulbesetzungen befeuert, bei »der ersten machtvollen Rebellion gegen das Ganze der bestehenden Gesellschaft, der Rebellion für die totale Umwertung der Werte, für qualitativ andere Lebensweisen«. Freilich ist auch diese Revolte nicht vom Himmel gefallen, sie hat objektive und subjektive Bedingungen. Nichtsdestotrotz heben Zeitzeugen wie der Soziologe Claude Lefort bereits 1968 deutlich hervor, was es bedeuten kann, wenn dem »Zusammenschluss einer Minderheit, abseits der Organisationen (…) die Möglichkeit geboten wird – und sie die Möglichkeit erkennen – in eine konkrete Situation einzugreifen, im hier und jetzt«, wenn »sie fähig sind eine Gelegenheit zu ergreifen«. (...)
Zwar wurden auch die Neue Linke und die Neuen Sozialen Bewegungen, die in den 1960ern, 1970ern, 1980ern eine Renaissance des Utopischen bewirkten, reintegriert und trugen eher zu einer Liberalisierung der Kultur als zu einer Sozialisierung der Produktionsmittel bei, aber ohne sie wäre wohl noch nicht einmal das Fortleben der heutigen Rest-Linken nach der »Wende« 1989, gegen den Neoliberalismus und Nationalismus der 1990er, 2000er und 2010er, denkbar gewesen. In den Jahren der Revolte selbst wurde die geschichts- und utopietheoretische Einsicht durchaus formuliert. So forderte der SDS-Genosse Hans-Jürgen Krahl noch im Kairós 1969, es müsse der wissenschaftliche Sozialismus nun »die Formulierung der konkreten Utopie leisten«. Der Philosoph Heinrich Fries formulierte rückblickend auf die Theorie Paul Tillichs den für uns bis heute brauchbaren Leitsatz: »Geist der Utopie ist Bewußtsein des Kairós«. Zeitgenössische Autoren wie Immanuel Wallerstein, Giorgio Agamben oder Michael Hardt und Antonio Negri, die von der Erfahrung von 1968 geprägt sind, formulieren dies als Perspektive für heute: »Wir müssen uns auf ein Ereignis vorbereiten, dessen Datum ungewiss ist«, denn zur Emanzipation gehört »ein subjektiver kairós, der richtige Moment« – in dem unsere Utopien gefragt sein werden. (...)
Sollen Utopien keine frei schwebenden Ideale sein, deren Verwirklichung in einer fernen Zukunft erfolgen könnte, ist der Gedanke der konkreten Utopie ohne Krise und Kairós undenkbar. Viele utopische Ansätze sind an Gelegenheitsstrukturen gebunden. Ohne Pflegenotstand, Umweltzerstörung und Klimawandel dürften Care-Revolution, Kommende Nachhaltigkeit und Postwachstum kaum auf akademische und aktivistische Resonanz stoßen. Ohne Grenzregime und Gentrifizierung keine No-Border- oder Rechtauf-Stadt-Bewegungen. Sind es hier jedoch Krisenphänomene, die einen Kairós vorbereiten könnten, so sind es neue Potenziale, ohne die etwa über einen Computer-Sozialismus oder die Frage der Arbeitsgestaltung nicht zu reden wäre. (...) Ebenso wichtig sind die sich bildenden Bewegungen, die einmal in der Lage zum Handeln sein könnten. Dabei sind, wie Gabriele Winker schreibt, die rebellischen Subjekte selbst Teil der Bedingungen für »konkrete Utopie, die sich auf jetzt schon vorhandene Möglichkeiten und reale Akteur_innen bezieh(en)«.
Jede radikale Kritik des falschen Ganzen verweist auf die Möglichkeit eines anderen: Utopie.