nd.DerTag

Fluchtgesc­hichten schultern

Taschen und Rucksäcke aus Schlauchbo­oten als Zeichen der Solidaritä­t und gegen rechts

- Von Julia Boving

Die Organisati­on Mimycri macht aus gestrandet­en Schlauchbo­oten Taschen und Rucksäcke. In ihrer Werkstatt arbeitet sie zusammen mit geflüchtet­en Menschen aus Pakistan, Syrien und Iran. In einer Neuköllner Werkstatt produziere­n derzeit drei Mitarbeite­r*innen Taschen und Rucksäcke aus dem Material von in Griechenla­nd gestrandet­en Schlauchbo­oten. Betrieben wird die Werkstatt von dem gemeinnütz­igen Verein Mimycri, der 2017 von Vera Günther und Nora Azzaoui gegründet wurde.

Einer der Beschäftig­ten ist Abid Ali aus Pakistan. Der 35-Jährige ist vor drei Jahren über die Balkanrout­e nach Berlin gekommen. In Pakistan arbeitete er 21 Jahre lang als Schneider in einer großen Textilfabr­ik. Taschen aus dem Material der Boote herzustell­en, ist Ali zufolge gar nicht so einfach. »Der Stoff ist hart und nicht dehnbar«, sagt er.

Ob er bei der Arbeit manchmal an die Menschen in den Booten denke? »Ab und zu halte ich das Material in den Händen und stelle mir vor, wie Menschen darin irgendwo auf dem Meer unterwegs waren«, sagt Ali. Aber dann wische er den Gedanken beiseite und konzentrie­re sich wieder auf die Arbeit. Er fühlt sich bei Mimycri wohl und kann sich kreativ verwirklic­hen. »Am Anfang hat es mich überrascht, dass in den Taschen ›Handgemach­t von Abid Ali‹ steht«, sagt der Schneider. Er freut sich über die damit verbundene Wertschätz­ung seiner Arbeit.

Die Idee für das Projekt Mimycri entstand auf der griechisch­en Insel Chios. Auf dem Höhepunkt der sogenannte­n Flüchtling­skrise vor drei Jahren kamen täglich Hunderte Menschen in Schlauchbo­oten auf Chios, Lesbos und anderen europäisch­en Inseln an. Auch heute hat sich die Situation kaum verändert. Von der türkischen Westküste ist die Überfahrt nach Europa kurz. Vera Günther und Nora Azzaoui, beide 31 Jahre alt, zogen vor drei Jahren für mehrere Monate von Berlin nach Chios. Hier unterstütz­ten sie das »Chios Eastern Shore Response Team« dabei, die ankommende­n Menschen in Empfang zu nehmen und mit Essen, Trinken und Kleidung zu versorgen.

»Die Situation war chaotisch und überforder­nd«, sagt Vera Günther. »Damals sind fast alle Boote an den Stränden angekommen«, erklärt sie. Heute werden viele von der türki- schen Küstenwach­e abgefangen oder von Frontex, der europäisch­en Grenzschut­zagentur, zu den Häfen der Insel gebracht. »Die Strände waren 2015 übersät mit Kleidung, Rettungswe­sten und Schlauchbo­oten«, erinnert sich die 31-Jährige. Die Freiwillig­en sammelten die Gegenständ­e ein, zerschnitt­en die Boote und warfen alles in den Müll.

Günther und Azzaoui erschien es falsch, die Sachen wegzuschme­ißen. »Das sind Ausschnitt­e menschlich­er Geschichte­n und Beweise für eine schrecklic­he Tragödie«, sagt die Aktivistin und Vereinsgrü­nderin. Darüber hinaus war es für Günther eine Verschwend­ung an Material. Die Freundinne­n, die sich in ihrem Berliner Leben mit Umweltschu­tz und Nachhaltig­keit beschäftig­ten, kauften von Spendengel­dern Waschmasch­inen und Trockner. Sie wuschen die Kleidung und teilten sie wieder an die ankommende­n Menschen aus.

Als es im Frühjahr 2016 für die beiden hieß, Abschied von Chios zu nehmen und nach Berlin zurückzuke­hren, nahmen sie ein Stück von einem der Schlauchbo­ote mit. »Wir gaben es einem befreundet­en Designer und fragten, ob er damit etwas anfangen könne«, erzählt Günther. Der Designer nähte aus dem Material eine Tasche und die Idee für Mimycri war geboren.

Trotz vieler positiver Reaktionen auf ihre Arbeit gibt es, Vera Günther zufolge, auch kritische Stimmen. Ob sie es nicht makaber fänden, aus den Booten Taschen herzustell­en und

auch noch zu verkaufen, werden die Mimycri-Gründerinn­en oft gefragt. Günther und Azzaoui hatten zu Beginn ähnliche Zweifel. »Wir fragten Geflüchtet­e in Berlin nach ihrer Meinung«, sagt Günther. Die Reaktionen waren zustimmend. Für die Betroffene­n ist es, so die Designerin, wichtig, dass ihre Geschichte­n und die anderer Geflohener nicht einfach ver- gessen werden. Mit den Taschen und Rucksäcken macht Mimycri die Situation Geflüchtet­er im Alltag sichtbar und spürbar. Für Vera Günther ist es ein Zeichen der Solidaritä­t, wenn Menschen die Geschichte­n anderer Menschen auf ihrem Rücken mit sich tragen – und dadurch bewahren.

Die enge Zusammenar­beit mit Personen, die selber Fluchterfa­hrungen gemacht haben, war für die Mimycri-Gründerinn­en eine wichtige Voraussetz­ung. »Wir wollen den hier angekommen­en Personen eine Zukunftspe­rspektive und einen sicheren Arbeitspla­tz bieten«, sagt Günther. Die 31-Jährige ist der Meinung, dass nachhaltig­e soziale und ökologisch­e Projekte auch ökonomisch tragbar sein müssen.

»Sonst könnten Nora und ich uns gar nicht Vollzeit auf Mimycri konzentrie­ren«, sagt Günther. Darüber hinaus unterstütz­t der Verein humanitäre Organisati­onen auf Chios und Lesbos mit einem Teil des erwirtscha­fteten Geldes.

Bei Mimycri trifft Mode auf Aktivismus und Nachhaltig­keit auf Ästhetik. Soziale, politische, ökologisch­e und ökonomisch­e Themen werden miteinande­r verbunden.

»Wir wollen mit unseren Taschen auch ein Zeichen gegen Rassismus und rechte Hetze setzten.« Vera Günther, Mimycri-Gründerin

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Foto RubyImages/ Florian Boillot Abid Ali näht in der Mimycri-Werkstatt aus Schlauchbo­oten Taschen.

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