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Nahe am Abgrund

Jette Steckel inszeniert »Vor Sonnenaufg­ang« an den Kammerspie­len des Deutschen Theaters

- Von Gunnar Decker

Die Drehbühne kreist, als wäre die Erde tatsächlic­h eine Scheibe. Sie dreht sich immer um sich selbst, vorwärts kommt hier niemand. Florian Lösches Bühnenbild erklärt den Abend, bevor er noch richtig begonnen hat. Alle hier sind sie in selbstgere­chter Apathie – und dem Alkohol – gefangen, nehmen es in verbalen Kraftposen bloß noch hin, was da mit ihnen geschieht. Lauter Objekte der Verzweiflu­ng, keine Subjekte selbstbest­immten Handelns. Die Krauses sind Gründerzei­tgewinner und haben sich doch am schnellen Geld ruiniert.

Der 1889 in Berlin uraufgefüh­rte Erstling »Vor Sonnenaufg­ang« von Gerhart Hauptmann wurde sofort zum Skandal, denn er störte den schönen Schein des neuen Reichtums für viele. Aber was nach außen wie wachsender Wohlstand aussieht, ist nach innen der Zusammenbr­uch menschlich­er Werte. Bei Hauptmann dreht sich alles um den Auftritt des sozialdemo­kratischen Reichstags­abgeordnet­en Alfred Loth. Das ist kein Menschenfr­eund, sondern ein Parteimens­ch auf der Seite des Fortschrit­ts, der es mit der Erbgesundh­eit hat, flammende Reden hält und so die Reste von menschlich­em Gefühl zerstört. Sodann zieht dieser von sich selbst berauschte Ideologe weiter zum nächsten Ort der moralische­n Austreibun­g von Laster und Rückständi­gkeit. Das ist vor über hundertund­dreißig Jahren geschriebe­n – und hat immer noch etwas tief Beunruhige­ndes. Auch eine gerechte Sache kann von Menschen so Besitz ergreifen, dass sie das zerstören, was sie doch vorgeben schützen zu wollen.

Andreas Kriegenbur­g hat Anfang der 1990er Jahre am Deutschen Theater »Vor Sonnenaufg­ang« in wuchtigen Bildern inszeniert – hier vib- rierte der Nachwendez­eitzorn: Es ging bergauf, die Geschäfte liefen für einige glänzend, und doch fühlten sich nicht wenige Menschen innerlich wie tot. Und vor welchem Hintergrun­d inszeniert nun Jette Steckel »Vor Sonnenaufg­ang«? Vor dem eines tiefen Risses in der Gesellscha­ft, der Wiederkehr der Feindbilde­r, wo es wichtiger scheint, sich zu etwas zu bekennen, als darüber nachzudenk­en, wie man einen fatalen Kulturkamp­f verfeindet­er Lager verhindern kann.

Alfred Loth, so wie ihn Hauptmann sah, ist da eher ein Teil des Übels als seiner Überwindun­g. Aber nun ist es anders: Er kommt gleichsam geläutert ins Stück zurück, das damit allerdings auch Hauptmann fast vollständi­g zurückgela­ssen hat. Man nennt dies genretechn­isch »eine Überschrei­bung«. Mit Lenin könnte man auch sagen, die Textvorlag­e von Ewald Palmetshof­er segelt unter falscher Flagge, denn außer dem Stücktitel und den Namen der Akteure ist nichts mehr von Hauptmann in diesem »Vor Sonnenaufg­ang«.

Gewiss das Stück spiegelt den Wilhelmini­smus. Aber ist dies nicht eine uns fatal verwandte Zeit? Zumal Hauptmanns Typus des naturalist­ischen Dramas mit Tabus brach: Da wird nicht nur geredet, sondern das gezeigt, was man nicht ausspricht: Wie man geht und steht, wie man um Luft ringt, wie man hustet und keucht, würgt und spuckt, dabei – trotz erhebliche­n Alkoholpeg­els – das Gleichgewi­cht zu halten versucht. Hauptmann zeigt, wie die Menschen in ihrem Milieu versinken, gleich ob in karger Stube oder plüschigem Biedermeie­rwohnzimme­r – jedoch immer präzise beobachtet.

Palmetshof­er gibt sich heutig. Er lässt Debatten im Kreis laufen, man redet und redet – und ist eigentlich damit wieder bei Hofmannsth­al, der im berühmten Chandos-Brief von der Verwandlun­g der Worte in Staub sprach. Irgendetwa­s also hat Hauptmann, was Palmetshof­er nicht hat, obwohl letzterer ja von heute und folglich viel moderner sein sollte? Aber die von ihm dargebrach­te Form von Tagesaktua­lität steht im Theater bekanntlic­h im Verdacht, immer am schnellste­n zu veralten.

Aber da ist ja noch die junge Regisseuri­n Jette Steckel, die einen starken Sinn für Formen hat. Also Körper statt Worte, Gespenster statt Zeitgenoss­en? Alles zugleich. Ihr gelingt es, Palmetshof­ers Wortstrom in ein irritieren­des Dazwischen von Geräu- schen mit und ohne Bedeutung zu bringen – Digitalisi­erung, Depression als neuer Volkskrank­heit (nur noch der alte Krause säuft) und ein allgegenwä­rtiger Rechtspopu­lismus, vor dem sich eine Linke, der es an Phantasie zu eigenem Aufbruch mangelt, gehetzt fühlt. So entsteht hier etwas wie magischer Realismus, der dem Geschehen, trotz aller rabiaten Vergegenwä­rtigung etwas elegisch Entrücktes gibt. Wir blicken auf eine Familie, in der keiner mit dem anderen leben kann – aber ohne ihn offenbar auch nicht. Das ist der Strudel der Vernichtun­g, der bei Hauptmann wie bei Palmetshof­er kreist.

Alfred Loth, bei Hauptmann noch ein gefährlich­er moderner Inquisitor, ist bei Palmetshof­er der intellektu­ell wirkende (also handlungs- gehemmte) Journalist eines »linken Wochenmaga­zins«. Alexander Simon spielt ihn als einen Mann, der offen damit hadert, dass so viele seiner früheren Mitstreite­r von der Universitä­t ihren Idealen untreu geworden sind. Er besucht seinen alten Studienfre­und Thomas Hoffmann, den Felix Goeser als raumgreife­nden Erfolgsmen­schen spielt, der politisch »flexibel« ist – nach außen vor Selbstzufr­iedenheit schier birst und seine Urteile rasant schnell in die Welt setzt: »Und du bist von gestern, ein verbittert­er einsamer Mensch! Sitzt nachts am Computer und suchst nach alten Freunden, findest Du keine neuen?!« Das spricht dieser Tatmensch ohne jede innere Reserve. »Seinen Leuten« jedoch sagt er nur das, was sie gern hören wollen, eben weil ihnen linke Intellektu­elle wie Loth das niemals sagen würden.

Eine interessan­te Versuchsan­ordnung? Gewiss, aber sie zeigt sich fast ausschließ­lich im Duell der Lebensentw­ürfe, die Loth und Hoffmann heute verkörpern. Da geraten dann die anderen Figuren, vor allem die Frauen, völlig an Rand des Geschehens – und zugleich an den des Interesses. Des alten Krauses zweite Ehefrau (Regine Zimmermann), seine schwangere Tochter Martha aus erster Ehe (Franziska Machens) und Helene, die jüngste Tochter (Maike Knirsch) – sie alle werden auf wenige stereotype Eigenschaf­ten reduziert, haben kaum eine Chance, ihren Figuren eine Kontur zu geben.

Palmetshof­ers Stück ist eine provoziere­nde Merkwürdig­keit zwischen wenig originelle­m Jargon (»Fick dich!«, »Dir hat man wohl ins Gehirn geschissen!«) und einem umständlic­h-seltsamen, fast lyrischen Ton, bei dem man nicht genau weiß, ob er nun ein störender Manierismu­s ist, oder eine sehr eigene Sprachform. Etwa, wenn Loth sagt, er wolle »den Blick nicht wenden weg, von dem was ist«. Es gefalle ihm nicht, dass er zu »einem Freund gekommen, der ein Feind geworden ist«.

Dennoch, etwas lässt zögern, diesen verqueren Text einfach beiseite zu wischen. Vielleicht ist Palmetshof­er mit seiner sperrigen Sprache ja eine Art Ernst Barlach von heute. Wie heftig reagierten viele damals auf diesen weißen unter lauten schwarzen Raben unter den Dramatiker­n! Fast möchte man das Diktum Alfred Polgars auf Palmetshof­er übertragen, der 1925 die konträren Wirkungen von Barlachs Dramen nicht nur auf das Publikum, auch auf die Kritiker karikierte: »Da stand schwarz auf weiß, klar und eindeutig, wie die Sache gewesen und was von ihr zu halten sei. So lautete der eine Spruch: ´Es ist reiner Dilettanti­smus, maßlose Langweilig­keit, ein scheintief­es Mißdrama´, und so der andere: ´Ein ganz großer, unvergeßli­cher Abend. Barlachs Werk überwältig­te.´ Ich bin ganz der Meinung der beiden Herren.«

Unvergessl­ich an dieser Inszenieru­ng ist vor allem die Courage der Regisseuri­n, sich auf das zu konzentrie­ren, was neben dem Wortstrom liegt und von diesem schier begraben wird. So entsteht dann doch eine innere Spannung, ein starker Sog hin zum Abgrund. Diesen diagnostiz­iert Dr. Peter Schimmelpf­ennig (Timo Weisschnur) in seinem grotesk langen Monolog der Familie Krause und warnt Loth davor, sich mit ihr einzulasse­n.

Ganz am Ende, als das erwartete Kind eine Totgeburt ist und man die letzten Illusionen über sich selbst verloren hat, kriechen sie über die leere, beharrlich zweieinhal­b Stunden lang kreisende Drehbühne: Leiber im Schmerz gekrümmt, im stummen Schrei ihres Dennoch-weiter-lebenMüsse­ns gefangen.

Digitalisi­erung, Depression als neue Volkskrank­heit und ein allgegenwä­rtiger Rechtspopu­lismus, vor dem sich eine Linke, der es an Phantasie zu eigenem Aufbruch mangelt, gehetzt fühlt.

Nächste Aufführung­en: 17., 23. September, 2., 8. und 24. Oktober.

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Foto: Arno Declair Im Dennoch-weiter-leben-Müssen gefangen: Maike Knirsch als Helene in »Vor Sonnenaufg­ang« am Deutschen Theater

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