Betsy Harris (London, 1963)
Unbekannte Bekannte
Betsy Harris«, korrigierte sie mich, »nicht Betty.« Schon da hatte ich sie für eine Australierin gehalten: Lange Arme, lange Beine, lässiger Gang, helle Haut mit Sommersprossen, rötliches Haar – und ja, ich war nicht im Irrtum. Wir hatten eine Menge Anknüpfungspunkte, während uns die Fähre von Holland nach England brachte. Dorthin wollte sie unbedingt, dort lebte der Vater ihres Jungen, des kleinen Ronny, den sie ständig um sich hatte, der drei Jahre alt und ein liebes Kerlchen war, und dass sie es mit Ronny von Brisbane über Gott weiß wie viele Länder bis hierher geschafft hatte, immer allein, immer die allein erziehende Mutter, war schon ein kleines Wunder.
Sie wirkte sehr eigen, sehr resolut, was immer sie tat, tat sie schnell und richtig, und der Junge war ihr keine Last. »Im Gegenteil, es war immer gut ihn dabei zu haben. Er hat mir manch heikle Situation erspart.« Sie war sich nicht sicher, ob der Vater den Jungen wirklich wollte, der hatte Ronny nicht gesehen, seit der ein Baby war, aber jetzt gab es in Chelsea ein Häuschen, dort würde Ronnys Vater in wenigen Tagen sein – »vielleicht heute schon«.
Folglich wunderte es mich arg, dass sie mich bei der Ankunft in Dover bat, sie in London bis hin zu dem Häuschen zu begleiten. Man könne nie wissen …
»Betsy, wieso? Dort erwartet dich dein Mann.« Sie lachte ein Lachen, das unschwer zu deuten war. »Komm einfach mit, bitte!« Ich hatte in London keine festen Pläne und sagte zu, auch weil ich ein wenig neugierig auf diesen Mann mit den neu entdeckten Vaterpflichten war. Walter Kaufmann, 1924 als Jizchak Salomon Schmeidler in Berlin geboren, floh 1939 nach England, lebte ab 1940 in Australien und kam 1956 in die DDR. Er arbeitete als Landarbeiter, Straßenfotograf und Seemann und hat das Erlebte schreibend dokumentiert. Im vergangenen Jahr veröffentlichte »nd« den ersten Teil einer Porträtreihe, in der sich Walter Kaufmann an Menschen erinnert, die seinen Weg kreuzten. Jetzt setzen wir die kleine Serie fort.